Unwiderstehlich zieht es die zwölfjährige Gelsomina in die Scheune, die zu dem kleinen Bauernhof ihrer Familie gehört. An einer Stelle fällt ein Sonnenstrahl durch eine Öffnung in der Wand und inspiriert das Mädchen zu einem poetischen Einfall: Sie solle den Strahl trinken, weist sie ihre kleine Schwester an, die ihr gefolgt ist; die Jüngere gehorcht, ohne lange zu überlegen. Unaufdringlich setzt die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher diesen träumerisch schwebenden Moment in Szene, bei dem die Atmosphäre die Kinder für kurze Zeit ihren Alltag vergessen lässt. Der besteht im Wesentlichen darin, ihrem Vater zur Hand zu gehen, der Honig ohne künstliche Zusätze produziert. Was mehr schlecht als recht den Verdienst der Familie ausmacht, für die der heruntergekommene Bauernhof in Mittelitalien nahe des Lago di Bolsena weniger Wohn- und Arbeitsstätte als ein Refugium vor der restlichen Welt ist.
Alice Rohrwacher belässt bei ihrer zweiten Regiearbeit mit Bedacht vieles im Ungefähren. Dass der Vater Ende der 1960er-Jahre im revolutionären Kampf aktiv war, muss man sich aus Andeutungen zusammenreimen. Obwohl seine Revoluzzerträume an der Realität zerschellt sind, beschreitet er als Imker mit alternativen Methoden weiter den Weg des Außenseiters, doch sein streitbarer Geist trifft vor allem die Familie.
Rohrwacher erzählt aus dem Blickwinkel der nachdenklichen Gelsomina: Als ältestes Kind soll sie die Nachfolgerin des Vaters werden. Bereits jetzt kommt sie mit den Bienen besser zurecht als er und passt nebenbei noch auf ihre drei Schwestern auf. Das väterlich definierte Refugium ist für sie auch ein Gefängnis, weshalb sie sich immer öfter eigene Zufluchtsorte sucht. Eine Revolution im Stillen, die Kamerafrau Hélène Louvart mit einer sanft gleitenden Kamera einfängt, die dem sommerlichen Ambiente einen bezaubernden Anstrich verleiht.
Die stupende Detailgenauigkeit, mit der das Leben auf dem Hof und die Arbeitsschritte bei der Honigproduktion dargestellt sind, lässt an Werke des Neorealismus denken und speist sich aus dem autobiografischen Hintergrund des Films – die Deutsch-Italienerin Alice Rohrwacher wuchs selbst auf einem solchen Hof auf. Doch bei aller realistischen Grundierung hat ihre Coming-of-Age-Geschichte im Kern märchenhafte Züge. Sie erinnert durch ihre beschauliche Stimmung und ihren visuellen Reichtum ebenso wie durch die sensibel gezeichnete Hauptfigur an die animierten Landpartien Hayao Miyazakis wie in „Mein Nachbar Totoro“. Auch an Fellini lässt sich denken. Nicht nur, weil die Protagonistin denselben Namen trägt wie Giulietta Masina in „La Strada“ (fd 5 249), sondern vor allem wegen einer Szene, in der Gelsomina in Kontakt mit der verbotenen materialistischen Welt gerät. Eines Tages werden die Mädchen Zeuge, wie in den Ruinen eines etruskischen Theaters eine seltsame Fernsehsendung aufgezeichnet wird. Statisten in Togen und mit Leiern umlagern eine Frau mit einem muschelförmigen Hut, die als gute Fee den Anwohnern des Sees einen hohen Geldpreis für die Familie mit dem größten „regionalen Bewusstsein“ verspricht. Ein Setting, das ganz im Geiste Fellinis satirisch in kitschiger Künstlichkeit schwelgt und doch verführerisch wirkt. Gelsomina erliegt der Verführung, bleibt dabei aber pragmatisch: Sie will den Preis gewinnen, um ihrer Familie zu helfen, gerät dadurch aber endgültig in Konflikt mit dem Lebensentwurf des Vaters.
Das Erwachsenwerden des Mädchens und das Eindringen der Außenwelt in die ländliche Abgeschiedenheit zeigt Rohrwacher als fließend ineinander übergehende Prozesse. Dabei hält sie souverän die Balance zwischen dem authentischen Anspruch und den sorgsam dosierten „poetischen“ Momenten, womit sie die Hauptfigur wie die Zuschauer in einen beglückenden Sog versetzt, der um die Möglichkeit einer prosaischeren Zukunft weiß, sie aber letztlich nur dezent andeutet. Denn aus dem Traum erwachen kann man immer noch, wenn Sommer und Film vorüber sind.