Auch Schildkröten können fliegen

Drama | Iran/Irak 2004 | 95 Minuten

Regie: Bahman Ghobadi

In einem Flüchtlingslager im kurdischen Norden Iraks suchen Kinder verminte Felder nach intakten Sprengkörpern ab, um sie an Zwischenhändler in der Stadt zu verkaufen. Während ihr Anführer Ordnung ins Chaos zu bringen versucht, bekommt das allgemeine Elend durch eine neu ankommende Familie, die vor Saddams Soldaten fliehen musste, ein individuelles Gesicht. Schonungslose Beschreibung einer Welt zwischen Krieg, Verelendung und der Auflösung aller sozialen Bezüge, die mit schwarzem Humor der Hoffnungslosigkeit zumindest skurrile Atempausen abzugewinnen versucht. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LAKPOSHTHA HAM PARVAZ MIKONAND
Produktionsland
Iran/Irak
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Mij Film
Regie
Bahman Ghobadi
Buch
Bahman Ghobadi
Kamera
Shahram Assadi
Musik
Hossein Alizadeh
Schnitt
Mustafa Kherqepush · Haydeh Safi-Yari
Darsteller
Avaz Latif (Agrin) · Soran Ebrahim (Satellit) · Saddam Hossein Feysal (Pashow) · Hiresh Feysal Rahman (Hengov) · Abdol Rahman Karim (Digah)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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IMDb

Diskussion
Stacheldraht und aufgewühlte Erde. Zahlreiche Kinder stehen am Rande eines Minenfeldes. Ein kleiner blinder Junge sitzt mittendrin und weint – die kleinste Bewegung kann die Sprengkörper zur Explosion bringen. Die Kinder am Rande rufen ihm zu. „Hol du ihn 'raus!“, sagt ein Junge mit einer dicken Brille zu einem anderen Kind. „Das ist ungerecht, ich habe schon einen Arm verloren – soll doch einer gehen, der noch beide hat.“ Der iranisch-kurdische Regisseur Bahman Ghobadi („Die Zeit der trunkenen Pferde“, fd 35 110; „Verloren im Irak“, fd 35 960) zeigt einen trostlosen Mikrokosmos in einem verlorenen Landstrich: Kriegsopfer, Flüchtlinge und insbesondere Kinder, die sich in einer absurden Schattenwelt zusammengefunden haben. Im Norden Iraks, im kurdischen Teil des Landes, ist kurz vor dem Einmarsch der US-Truppen die Anspannung geradezu physisch zu spüren. Die Flüchtlingslager sind überfüllt, es gibt zu wenig Nahrung. Während die Alten palavern und lamentieren, verdienen sich die Kinder und Jugendlichen etwas Geld, indem sie in den Minenfeldern nach intakten Minen suchen – gute amerikanische oder europäische Ware. Für ihre lebensgefährliche Arbeit erhalten sie ein paar Dinare; die Zwischenhändler verkaufen die Minen dann für teures Geld an die UN-Truppen.

Das Kommando führt ein Junge mit übergroßer Brille, der Satellit genannt wird, weil er sogar Antennen und Satellitenschüsseln reparieren kann – unverzichtbare Fähigkeiten kurz vor Ausbruch des Irak-Krieges. Er verfügt über guten Kontakt zu den Händlern in der naheliegenden Stadt und kann auch Ersatzteile besorgen; die Alten schreiben ihm sogar die Fähigkeit zu, die fremden Laute der CNN-Nachrichten übersetzen zu können. Während ringsum die familiären und gesellschaftlichen Strukturen längst kollabieren, haben die Kinder eigene soziale Strukturen entwickelt. Satellit führt seine Truppe verstümmelter Waisenkinder mit organisatorischem Geschick, schwärmt von Amerika, dem gelobten Land. Er organisiert den Kontakt zu den Händlern und verteilt die Gelder unter den Kindern. Seine Minensuchgruppe weiß als erste vom bevorstehenden Ausbruch des Krieges, dem Einmarsch der Amerikaner und dem Sturz Saddam Husseins. Dabei sind seine eigentlichen Informationsquellen nicht die CNN-Nachrichten, dies ist vielmehr Hengov, ein Junge, der erst vor wenigen Tagen mit seiner Schwester Agrin und deren blindem Baby angekommen ist. Hengov hat beide Arme verloren, besitzt aber die Gabe, in die unmittelbare Zukunft zu schauen. Satellit verliebt sich in Agrin, aber sie interessiert sich nicht für ihn, denn sie, Hengov und das kleine blinde Kind haben dort, wo sie herkommen, Schreckliches erlebt. Sie will nicht mehr leben, denn sie kann die Erinnerung an Folterung und Vergewaltigung durch irakische Soldaten nicht vergessen und ihrem Sohn gegenüber auch keine Liebe aufbringen, denn er ist das Kind dieser Vergewaltigungen.

Als das blinde Kind hilflos im Minenfeld sitzt, begibt sich Satellit schließlich selbst in Gefahr, um es zu retten. Der Mutter kann er allerdings nicht mehr helfen, und als im letzten Moment eine amerikanische Mine explodiert, wird er schwer verletzt. „Auch Schildkröten können fliegen“ konstruiert einen aussichtlose Lebenswelt zwischen Krieg, Verelendung und der Auflösung menschlicher Beziehungen. Trotzdem oder gerade deshalb lebt der Film von einem spezifischen, stellenweise sehr schwarzen Humor, der aus dem Überlebenswillen der Kinder erwächst. Ghobadis Film ist vielstimmig und vermittelt eine vielschichtige Realität: eine universelle Geschichte mit der Skurrilität mittelalterlicher Schelmenromane. Dabei kommt keine falsche Larmoyanz auf, aber auch die Hoffnungsschimmer eines Trümmerfilms bleiben aus. Am Ende sieht man, wie amerikanische Panzer vorrücken, flankiert von schwer bewaffneten Soldaten, die die Kinder und Flüchtlinge am Rande des Weges gar nicht beachten – gepanzerte Wesen, die mit der irakisch-kurdischen Realität wenig zu tun haben und noch weniger mit Satellits amerikanischem Traum.

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