Dieses Jahr in Czernowitz
Dokumentarfilm | Deutschland 2004 | 134 Minuten
Regie: Volker Koepp
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2004
- Produktionsfirma
- Vineta/SWR/WDR/MDFR/RBB
- Regie
- Volker Koepp
- Buch
- Volker Koepp
- Kamera
- Thomas Plenert · Susanne Schüle
- Schnitt
- Angelika Arnold
- Länge
- 134 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Es braucht eine knappe Stunde, bis die Kamera Czernowitz zum ersten Mal ins Bild setzt. Zuvor schwenkt sie über Berlin, New York und Wien, weit weg vom Zentrum des Films und doch immer ganz nah an ihm dran. Koepp erkundet, was Czernowitz heute für diejenigen bedeutet, die die Stadt vor Jahrzehnten verließen oder überhaupt nur vom Hörensagen kennen. Ein mythischer Ort, eine Art Märchenwelt, sagt eine junge Sängerin in Berlin: „Als Kind habe ich mir vorgestellt, dass dort alles schwarz-weiß ist, weil die Fotos, die ich sah, alle nur schwarz-weiß waren.“ Eine Wiener Psychologin bezeichnet Czernowitz als „kulturellen Ort, einen Ort in meiner Seele“, und der Schauspieler Harvey Keitel sinnt über die spirituelle Nähe zur Bukowina nach: „Es war eine Freude für uns, dass wir mit etwas Unbekanntem verbunden waren. Wir fühlten, je mehr die Eltern von sich und ihrer Heimat erzählten, desto mehr erfuhren wir über uns selbst.“ Solche reflektierenden Sentenzen bleiben im Film nicht abstrakt, sondern werden durch Lebensgeschichten unterfüttert, die auf emotionale Weise über Brüche des 20. Jahrhunderts, Flucht und Vertreibung, das unsagbare Grauen und den Überlebenswillen der Menschen Auskunft geben. Zu den Glücksfällen des Films gehört beispielsweise die Begegnung Koepps mit dem in den späten 1980er-Jahren in die Bundesrepublik Deutschland und dann in die USA emigrierten Schriftsteller Norman Manea, der sich als „Mischung von Vergangenheit und Gegenwart, Pessimismus und Optimismus“ bezeichnet und die Verwerfungen der Zeitläufte in dem Satz bündelt: „Als Kind sprach ich rumänisch, im KZ jiddisch, nach dem Krieg russisch, dann deutsch und heute englisch.“ Als heimatlos sähe er sich dennoch nicht: „Die Heimat ist für mich die Sprache, und die Sprache ist rumänisch.“
Um diese Frage – Was ist Heimat? – kreist der Film fortwährend. Heimat als konkreter geografischer Ort – und als Ort im Herzen. Heimat als etwas, das man sich nicht aussuchen kann, sondern das man ist. Harvey Keitel liest ein Gedicht des aus der Bukowina stammenden stammenden Poeten Paul Celan: „Es war Erde in ihnen ...“. Jüdischsein als Heimat. Wenn der Berliner Cellist Eduard Weissmann am Czernowitzer Grab seines 1936 von der rumänischen Geheimpolizei ermordeten Onkels niederkniet, betet er wie selbstverständlich in hebräischer Sprache. Während der Begegnung mit einem greisen Sänger, der den Onkel noch kannte, fallen die beiden vom Deutschen ins Jiddische, dann ins Russische und ins Rumänische. Koepp, der sich jedes Kommentars enthält, setzt konsequent auf solche Szenen, deren Sinngehalt weit über den konkreten Moment hinausreicht. Und er verknüpft die Erzählstränge, das breite Figurenensemble seines Films auf gewohnt geschickte Weise: Nach den älteren Männern und ihrem Eintauchen in die Vergangenheit stellt er eine Studentin vor, die ganz für die Gegenwart und Zukunft sowohl des realen als auch des magischen Ortes Czernowitz steht. Eine von ihr verfasste Projektarbeit beginnt mit dem Satz: „Die Bukowina ist die Heimat für Toleranz, für alle Kulturen, für alle Völker.“ Der Mythos Czernowitz als Vision eines tatsächlich geeinten Europa. Sie selbst spricht ein halbes Dutzend Sprachen, und obwohl sie inzwischen ihr Studium in Jena angetreten hat, beschwört sie am Ende des Films, bei ihrer Abreise: „Ich komme wieder!“
Auch mit „Dieses Jahr in Czernowitz“ erweist sich Koepp als ein Meister der zur Metapher verdichteten Beobachtung. Keine Frage, dass ihm sein Kameramann Thomas Plenert erneut ein kongenialer Partner war: Er weiß nur zu gut, wie wichtig es sein kann zu sehen, was die Gesprächspartner vor ihrem ersten und nach ihrem letzten Wort tun, wie sie blicken, wie sie sich bewegen. Wenn Eduard Weissmann und seine Frau vor dem Haus der Vorfahren stehen, von der großen jüdischen Familie und den vielen Kindern erzählen – und dann für einen langen Moment Ruhe herrscht. Mag sein, dass den Interviewpassagen noch ein paar mehr solcher Ruhepunkte gut getan hätten. Mag auch sein, dass der berühmteste der Interviewten, Harvey Keitel, vergleichsweise wenig zu sagen hat, ein bisschen glatt und veräußerlicht wirkt. Aber das sind nur kleine Einwände zu einem großen filmischen Wurf über ein europäisches Grenzland: den Ort und die Welt.