Die Schreibmaschine und andere Scherereien

Dokumentarfilm | Frankreich 2024 | 72 Minuten

Regie: Nicolas Philibert

Im dritten und abschließenden Teil seiner Trilogie über Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen begleitet der Filmemacher Nicolas Philibert einige Protagonisten, die man schon aus den Vorfilmen „Auf der Adamant“ und „Averroès und Rosa Parks“ kennt, nach Hause. Dort kommen ihnen bei Problemen aller Art psychiatrische Pfleger zu Hilfe und bieten verschiedene Formen von Unterstützung. Voller Empathie stellt der kurzweiligste und zugänglichste Teil der Trilogie dar, wie sich der Alltag der Patienten mit Hilfe der ambulanten Betreuung gestaltet. Dabei leistet das Personal nicht nur ganz praktische sowie emotionale Hilfe, sondern steht auch für eine humane und hierarchielose Psychiatrie. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LA MACHINE À ÉCRIRE ET AUTRES SOURCES DE TRACAS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
TS Productions
Regie
Nicolas Philibert
Kamera
Nicolas Philibert
Schnitt
Nicolas Philibert
Länge
72 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb

Der dritte und abschließende Teil von Nicolas Philiberts Trilogie über Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen.

Aktualisiert am
06.02.2025 - 14:17:55
Diskussion

Die Schreibmaschine ist kaputt. Für Patrice ist das ein Problem, denn er schreibt täglich zwei Gedichte in Reimform mit der Hand, die er dann fein säuberlich abtippt und in Briefumschlägen verstaut. In seiner kleinen Wohnung tauchen nun die Pfleger Walid und Goulven auf, die seine Schreibmaschine wieder in Ordnung bringen. Patrice sind wir schon auf der „Adamant“ begegnet, dem Schiff am Seineufer, der im Wasser liegenden Tagesklinik für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. „Auf der Adamant“ hieß der Film des renommierten französischen Dokumentarfilmers Nicolas Philibert, mit dem er 2023 auf der Berlinale den „Goldenen Bären“ gewann. Schon damals betonte Philibert in Interviews, ihm ginge es darum, in einer Welt, die immer mehr auf Gewinnmaximierung setzt, Einrichtungen schließt und in der überforderte Ärzte einfach nur Pillen verschreiben, eine menschenwürdige Psychiatrie zu zeigen. Dort wird mit den Patienten vor allem noch geredet. Im Mittelpunkt steht der Dialog.

Die „Reparaturbrigade“ im Einsatz

Auf der Adamant“ war der erste Teil einer Trilogie, die 2024 mit „Averroès und Rosa Parks“ in zwei psychiatrischen Kliniken fortgesetzt wurde und nun mit „Die Schreibmaschine und andere Scherereien“ und Protagonisten wie Patrice, Muriel und Frédéric ihren Abschluss findet. Alle drei hat Nicolas Philibert in ihren winzigen Wohnungen besucht. Dabei folgt seine Kamera den Pflegern der „Reparaturbrigade“. Es ist auch kein Zufall, dass mit einer defekten Schreibmaschine, einem streikenden CD-Player und einer überbordenden Fülle von Schallplatten, Bildern und Büchern Gebrauchsgegenstände einer langsam verschwindenden analogen Welt symbolhaft für die Kommunikation zwischen Menschen stehen.

Frédéric, der sich selbst als „proletarischen Maler“ betrachtet, wird in seiner kleinen Behausung von seinen Büchern und Schallplatten fast erdrückt. Er kann sich in seinem Zimmer kaum noch bewegen und hat sich an einem Stapel Vinylschallplatten verhoben. „Jetzt schmerzt es auf meiner westlichen Seite“ sagt er, „der sensiblen Seite“, und meint damit die Herzgegend. Céline und Bruno sind seine sehr empathischen Pfleger, die ihm dabei helfen, Platten auszusortieren, ihm raten, Regale zu kaufen und einen Teil der Bücherberge in den Keller auszulagern. Frédéric verwickelt sie dabei in intellektuelle Gespräche, zitiert Jean Cocteau, der gerade (von einem Bücherberg) herunterfiel und singt ein Lied des französischen Sängers Michel Polnareff a cappella mit.

„Disc Error“ und andere Herausforderungen des Lebens

Ab und zu meldet sich auch Nicolas Philibert aus dem Off, fragt kurz nach, wirkt mit den Protagonisten vertraut. Dann offenbaren Patrice, Muriel und Frédéric kleine Puzzlestücke aus einem früheren Leben. Patrice lebte über 20 Jahre lang von der Hand in den Mund, trampte, spielte Katz und Maus mit der Polizei, die ihn immer wieder aufgriff und zurück in eine Klinik brachte, wo ihn seine Therapeutin schon empfing und wieder zurück in die Außenwelt entließ. Seine Gedichte strukturieren seinen Alltag, sein Leben. Muriel liebt vor allem eine CD mit Liedern von Janis Joplin, die sich aber ebenso wie eine Joan-Baez-CD nicht mehr abspielen lässt. Bei „Disc Error“ ist Endstation. Aber auch hier können die beiden männlichen Pfleger der Reparaturbrigade schnell helfen. Beide Silberscheiben waren lediglich verstaubt, weil sie nicht in Hüllen lagen. Muriel verfügt über einen trockenen Humor, irgendwann zeigt sie ein Foto aus der Zeit, als sie 27 war, und redet über den Unterschied zwischen dem schwarzen und dem weißen Tod. Der lässt sich nicht so recht nachvollziehen, aber auch Nicolas Philibert fragt nicht mehr genauer nach, lässt ihre Meinung einfach stehen.

Frédéric erzählt aus seiner Kindheit und Jugend, von seiner Ausbildung als Zeichner und davon, wie stolz er ist, die Abschlussprüfung vermasselt zu haben. Prüfungen waren ja auch für Jean Cocteau unwichtig. Und so konnte er immerhin Comiczeichner werden.

Wie schon in seinen ersten beiden Filmen, vor allem in „Auf der Adamant“, deutet Nicolas Philibert an, dass einige seiner Protagonisten nicht nur belesen und gebildet sind, sondern vielleicht aufgrund ihrer besonderen Sensibilität über ein anderes (Mehr-)Wissen verfügen als er als Filmemacher und wir als Betrachter. Nicolas Philibert hat genau diese Meinung in Interviews immer wieder propagiert. Dennoch wünscht man sich insgesamt manchmal ein wenig mehr an Informationen und Zusammenhängen, wenn es um die einzelnen Biografien und den kritischen Zustand der französischen Psychiatrie geht. Lohnenswert ist es auf jeden Fall, nach den Filmen auch auf das Interview der DVD-Box, die alle Filme der Trilogie vereint, zurückzugreifen, weil man dabei wirklich einen Mehrwert erhält.

Klassisches Cinéma Vérité

„Die Schreibmaschine und andere Scherereien“ ist mit 72 Minuten der kürzeste und auch zugänglichste Film aus der Trilogie. Das liegt vor allem daran, dass man die insgesamt vier Männer und eine Frau in ihren Wohnungen sieht, bei ihnen zu Hause ist. Ausgerechnet dieser Abschluss der Trilogie kam jedoch nun nicht mehr in die deutschen Kinos. Schon „Auf der Adamant“ erreichte trotz des „Goldenen Bären“ gerade einmal 11.000 Zuschauer im Kino, der überlange „Averroès und Rosa Parks“ nur noch 176 Zuschauer in der ersten Kinowoche. Selbst in Frankreich fand Nicolas Philibert nur mit „Auf der Adamant“ noch über 100.000 Zuschauer.

Im Kontext dieser sehr klassischen Cinéma-Vérité-Trilogie, die das Menschliche und Analoge so feiert, wird an dem Kinoschicksal der drei Filme auch deutlich, wie sehr sich die Neugier und Empathie des Betrachters bei Dokumentarfilmen verändert hat. Heute gehen in Deutschland immer mehr Menschen zur Therapie und reden auch darüber. Und diese Enttabuisierung ist auch gut so. Warum wollen dann aber so wenige sich mit den Schicksalen anderer psychisch Kranker auseinandersetzen? Das sollte uns allen als Cineasten und Filmliebhabern zu denken geben.

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