Die feige Schönheit

Coming-of-Age-Film | Deutschland 2024 | 104 Minuten

Regie: Moritz Krämer

Ein nonbinärer junger Mann aus Amsterdam kommt in Berlin bei seinem Bruder unter und verbringt die Tage mit Stunts und Kiffen mit seinen Skater-Freunden. Als es unter Drogeneinfluss zu einem tödlichen Stoß gegen den kleinen Bruder seiner Freundin kommt, werden die pragmatischen Wiederannäherungsversuche des jungen Manns zunächst von Mutter und Clique abgeblockt, bis die Schwester des Toten an ihre vormalige Liebe neu anknüpft. Eine stimmungsvoll-tragische Skizze über jugendliche Resilienz, die mit einer eindrucksvollen Kameraarbeit zu fesseln weiß. Schwächen zeigt das Drehbuch in der unglaubwürdig schnellen Wiederannäherung, während der Bewältigung von Trauer und Schuldgefühlen nicht ausreichend Raum eingeräumt wird. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Jost Hering Filme/Carousel Film/Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin/Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf/ZDF - Das kleine Fernsehspiel
Regie
Moritz Krämer
Buch
Saskia Benter Ortega
Kamera
Greta Isabella Conte
Musik
Moritz Krämer
Schnitt
Evelyn Rack
Darsteller
Pascale Numan (Kesse) · Sira-Anna Faal (May) · Lea Meny (Fanni) · Melika Nazari (Marine) · Marine Bourdais (Kati)
Länge
104 Minuten
Kinostart
07.11.2024
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama
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IMDb | TMDB

Drama über einen nonbinären jungen Skater, der unter Drogeneinfluss den Bruder seiner Freundin tötet und mit Schuldgefühlen und der Verachtung seiner Clique ringt.

Diskussion

Ihre Welt sind die Kanten, die Rails, Flips und Pipelines: Kesse (Pascale Numan) und seine Crew machen die Berliner Betonwüsten mit waghalsigen Stunts auf ihren Skateboards unsicher, die Kamera für Social Media immer im Anschlag. Die Sommertage meinen es gut mit ihnen. Nachmittags wird zuhause bei Kesses Freundin May (Sira-Anna Faal) in dicken Marihuana-Schwaden herumgehangen. Die Bitte der liberalen Mutter, wenigstens Mays kleinen Bruder Pepe nicht zum Kiffen zu verführen, wird belächelt.

Beim Skaten entblößt Kesse, der eigentlich aus Amsterdam stammt und bei seinem alleinerziehenden Bruder untergekommen ist, selbstbewusst den Oberkörper mit den breiten roten Narben einer Brustamputation. Kesse war mal eine Frau, jetzt versteht er sich nicht mehr als he/she, sondern als „they“.

Wie schwerelos gleiten die jungen Figuren in „Die feige Schönheit“ durch das Leben und über die Platten der Stadt. Bis eines Tages das Undenkbare passiert und im Film wie ein Blitz einschlägt. Im Streit schiebt Kesse den wesentlich jüngeren Pepe, der ihn wegen seiner Nichtbinarität aufzieht, über eine Dachkante in den Abgrund – ein tödlicher Sturz in über 20 Meter Tiefe. Von der Position des Schiebenden und dem Grad der Bekifftheit aller Beteiligten her ist nicht ganz klar, ob Kesse Pepe bewusst in den Tod schob oder ob er eine unglückliche Armbewegung in die falsche Richtung ausführte.

Plötzlich ist nichts mehr schwerelos

Sicher ist, dass plötzlich gar nichts mehr schwerelos ist. Bleischwer liegt die Tat über den Figuren, die der Film nach dreimonatiger Auszeit wieder aufeinandertreffen lässt. Der Kontaktabbruch zur Skate-Crew, das rigorose Abblocken aller Annäherungsversuche von Seiten der Mutter sind genauso verständlich wie die Irritation von Kesses Bruder, einem Polizisten.

Regisseur Moritz Krämer, der auch als Musiker mit der Band „Die höchste Eisenbahn“ bekannt ist, zentriert „Die feige Schönheit“ auf eine Figur, die in ihrer selbstbewussten Geschlechtsumwandlung, mit ihren kurzgeschorenen grünen Haaren und den waghalsigen Skate-Skills so viel Schillerndes hat – und in Folge ergraut, nicht nur wegen der Tat, sondern auch wegen der Unfähigkeit, sich zu entschuldigen. So selbstbewusst und mutig Kesse im Umgang mit seinem eigenen Körper ist, so unfähig ist er im Umgang mit den Gefühlen anderer.

Darin liegt die Feigheit der Hauptfigur in einem Film, der dank seiner sonnendurchflutet fließenden Bilder und dem Anhaften an die sich ständig in Bewegung befindlichen Jugendlichen anfangs noch an „American Honey“ von Andrea Arnold erinnert. Hinter den grandiosen Bildern, mit Handkamera und Totalen immer nahe an den Figuren und der Architektur der Stadt, steckt kein langjähriger Profi, sondern die dffb-Absolventin Greta Isabella Conte.

Wo „American Honey“ von jugendlicher Verlorenheit, von der Sehnsucht nach Halt in einem aus den Fugen geratenen, gesellschaftskritisch ausgeleuchteten Land erzählt, macht Krämer nach einer knappen Viertelstunde ein punktuelles Ereignis zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Es geht um die Verarbeitung von Trauer, um die Möglichkeit des Vergebens und um den Mut, darum zu bitten.

Die Farb- und Geschlechtsblindheit, der Gleichmut gegenüber der Frage, ob Kesse nun weiblich oder männlich ist, ob May und ihr Bruder als Geschwisterpaar weiß oder schwarz sein können, funktionieren, weil die emotionale Dramatik derlei Äußerlichkeiten eindampft. Was dagegen nicht gut funktioniert, ja geradezu irritiert, ist die Selbstverständlichkeit, mit der die trauernde Schwester May wieder an ihre Liebe zu Kesse anknüpfen kann.

Wege der Wiedergutmachung

Die als unpassend empfundenen Bemerkungen der Mutter über Kesses Geschlechtsumwandlung, darüber, ob sie schon oft Hänseleien ertragen musste, wie Pepe sie kurz vor seinem Tod vom Stapel ließ, sind es letztlich, die May wieder vor Kesses Tür stehen lassen. May versucht, Kesse zu entlasten: Das Gras kam von Kati, sie selbst hielt den Bruder nicht vom Kiffen ab.

Kesse wiederum versucht, einen eigenen Weg der Wiedergutmachung zu finden – Selbstverletzung beim so waghalsigen wie spekulativen Skate-Stunt nicht ausgeschlossen. Der Staat hingegen ist nicht so schnell bereit, zu verzeihen: Er schickt eine Vorladung zur Gerichtsverhandlung. Totschlag im Affekt oder fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge heißt das darin – „bis zu neun Jahre Knast“, fügt Kesses Bruder hart hinzu.

„Die feige Schönheit“ überzeugt dort, wo der Film Ambivalenzen zulässt. Zum Beispiel, als Kesse May gegenüber zur Disposition stellt, ob er nicht doch Pepes Tod beabsichtigt hatte. Wie eine Frage an sich selbst wird diese Bekundung der eigenen Unsicherheit zur unerträglichen Konfrontation der trauernden Schwester. Allerdings verpasst es die Inszenierung, klarer herauszuarbeiten, wovon sie erzählen will: Liegt in der Wiederannäherung eine jugendliche Resilienz im Umgang mit Kesses Schuld? Liegt es an einem Pragmatismus der eher unbekümmerten Art, wenn Skater-Verbundenheit oder Liebe Trumpf sind gegen den Schmerz und Hass ob des Verlusts?

Die Kamera geht die inneren Bewegungen mit

Zu viele narrative Leerstellen und damit offene Fragen tun sich hier auf, während die Kamera die Unentschlossenheit zumindest etwas abfedern kann. Sie geht die auch inneren Bewegungen der Figuren mit, die Schwere, die im gemeinsamen Fahren der Skateboards wieder an Leichtigkeit gewinnt, und in der Kesse doch ganz allein bleibt. Denn die Skater fahren nicht mehr gemeinsam, sondern abwechselnd oder solo. Der Keil ist drin, und abseits der vier Rollen wird er es wohl auch bleiben. Life must roll on.

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