Drama | Türkei/Deutschland 2024 | 85 Minuten

Regie: Türker Süer

Ein türkischer Hauptmann wird gezwungen, seinen fahnenflüchtigen Bruder zu einem weit entfernten Militärgericht zu bringen. Als sie unterwegs von einem Militärputsch erfahren, brechen alte Konflikte zwischen den Brüdern auf, die auf die Selbsttötung ihres Vaters, eines berühmten Generals, zurückgehen. Der regimetreue Hauptmann gerät in einen tiefen Loyalitätskonflikt. Die düstere Kombination aus Militärdrama und Road Movie schildert einen existenziellen Familienkonflikt in einem Milieu, das von einer strikten Hierarchie und einem patriotischen Wertekanon geprägt ist. Der Film kommt mit einem Minimum an Dialogen aus und bietet eindrückliche Bilder, lässt aber zu viele gewichtige Fragen unbeantwortet. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
EDGE OF NIGHT
Produktionsland
Türkei/Deutschland
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Match Factory Prod./Cinéma Defacto/Liman Film
Regie
Türker Süer
Buch
Türker Süer
Kamera
Matteo Cocco
Musik
Ozan Tekin
Schnitt
Rainer Nigrelli
Darsteller
Ahmet Rifat Sungar (Sinan) · Berk Hakman (Kenan) · Mert Tümer (Ihya) · Serkan Ilgaz (Bekir) · Yilmaz Gökgöz (Ilyas)
Länge
85 Minuten
Kinostart
27.03.2025
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Düsteres Familiendrama um einen pflichtversessenen türkischen Offizier, der seinen fahnenflüchtigen Bruder zu einem Militärgericht bringen muss und dadurch in einen schweren Loyalitäts- und Gewissenskonflikt gerät.

Veröffentlicht am
31.07.2025 - 12:51:55
Diskussion

Der strebsame türkische Hauptmann Sinan (Ahmet Rifat Sungar) erhält von Oberst Demirkan (Ahmet Kaynak) den Auftrag, seinen älteren Bruder Kenan (Berk Hakman) erst zu einem Verhör in Malatya und dann zum Militärgericht in Erzurum zu bringen. Oberleutnant Kenan wurde beim Versuch, das Land zu verlassen, festgenommen und muss sich wegen Befehlsverweigerung, Körperverletzung gegen den direkten Vorgesetzten und Fahnenflucht verantworten. Angesichts des ungewöhnlichen Auftrags ist für Sinans Frau Eda (Eda Akalin) klar: Das ist ein Test. Auf der langen Kleinbusreise schweigen die Brüder, die sich jahrelang nicht gesehen haben, zunächst – ihre Beziehung ist seit dem Selbstmord ihres Vaters, eines berühmten Generals, gestört.

Unterwegs wird bekannt, dass eine Gruppe von Militärs einen Putschversuch gestartet hat. Wem kann man nun noch trauen? Notgedrungen stoppt die Gefangeneneskorte in einer Militärbasis, in der ein Geheimdienstmitarbeiter den Gefangenen in Gewahrsam nimmt. Im Verhör schreckt er nicht vor einem Gewalteinsatz zurück. Von ihm erfährt Sinan, dass die Beweise im Strafprozess gegen seinen Vater weitgehend gefälscht waren und er zu einer Aussage gegen den Vater verleitet wurde. Kenan macht Sinan deswegen schwere Vorwürfe, hält aber offenbar seine schützende Hand über ihn.

Patriotismus, Pflichtbewusstsein und Gehorsam

In seinem ersten langen Spielfilm schildert der Regisseur Türker Süer, der in Deutschland geboren wurde und an der Kunsthochschule in Köln Regie und Drehbuch studiert hat, einen Familienkonflikt in einem maskulinen Militärmilieu, das von strikter Hierarchie geprägt ist. Hier werden Werte wie Patriotismus, Pflichtbewusstsein und Gehorsam hochgehalten. Frauen spielen in dem männerdominierten Psychodrama keine nennenswerte Rolle – einzige Ausnahme ist Eda, die als moralische Kontrollinstanz fungiert. Sie ist es, die Sinan aufruft, den Befehl zur Überführung von Kenan zu verweigern.

Die Kombination aus Militär- und Familiendrama kommt mit einem Minimum an Dialogen aus und entfaltet die Geschichte eines tragischen Bruderstreits vor allem über die Bilder, die der Kameramann Matteo Cocco im Breitwandformat komponiert hat. Die Regie schlägt ein gemächliches Tempo an, das den Zuschauenden Zeit gewährt, die Blicke schweifen zu lassen. Dabei nutzt der Editor Rainer Nigrelli von Zeit zu Zeit harte Kontraste, etwa wenn er auf eine Großaufnahme eines Gesichts eine Totale des blauen Himmels über einer leeren Autobahn schneidet.

Von Anfang an zeichnet Süer den Militärbetrieb als Mikrokosmos mit strikten Machtstrukturen und Macho-Allüren, die bis ins Absurde ausgreifen. So befiehlt ein Vorgesetzter einem Untergebenen, ihn in einer Sporthalle zu suchen, nachdem er ihn in der Kantine nicht angetroffen hat. Trotz der offensichtlichen Sinnlosigkeit des Befehls führt der Soldat ihn aus. Als Sohn eines hohen Offiziers hat sich Sinan dem gnadenlosen Regiment von Befehl und Gehorsam unterstellt.

Opferbereitschaft und der Verlust von Menschlichkeit

Die Pflichterfüllung hat für ihn oberste Priorität, sie ist für ihn sogar wichtiger als Familienbande. Das sehen aber nicht alle so im türkischen Militär. Der Unteroffizier Bekir (Serkan Ilgaz) zum Beispiel, der den Kleinbus steuert und vier Schwestern hat, betont gegenüber Sinan: „Die Familie ist das Wichtigste.“ Und Kenan warnt den Bruder, der von der unbedingten Opferbereitschaft für das Vaterland schwärmt, mit den Worten: „Wenn du blind gehorchst, verlierst du deine Menschlichkeit.“ Im Verlauf des Spielfilms leuchten die beiden Hauptdarsteller Ahmet Rifat Sungar und Berk Hakman die fragile Geschwisterbeziehung in packenden Szenen aus, die zwischen Vorwürfen und Solidarität, Liebe und Hass oszillieren.

Allmählich verdichten sich die Erfahrungen der Reise zu einer bitteren Analyse einer polarisierten Gesellschaft, in der die herrschenden Kräfte grenzenlose Loyalität und Unterwerfung einfordern. Sinan durchläuft unterwegs einen Passionsweg, der seine obsessive Pflichterfüllung und Vaterlandsliebe zunehmend erschüttert. Dieser Entfremdung verleiht der unterkühlte Synthesizer-Score von Ozan Tekin, der zuweilen an die Klangflächen von Tangerine Dream erinnert, akustischen Ausdruck.

Schade nur, dass das Road Movie zu viele naheliegende Fragen zu wichtigen Sachverhalten nicht beantwortet. Was wurde Sinans und Kenans Vater, der einmal als „lebende Legende“ charakterisiert wird, vor Gericht eigentlich vorgeworfen? Wie waren die Umstände seines Freitods nach unehrenhafter Entlassung und Haftstrafe? Was hat Sinan zum Schaden seines Vaters ausgesagt? Warum hat Kenan einen Vorgesetzten angegriffen und warum ist er desertiert? Mit einer Strategie der Verrätselung macht es sich der Regisseur zu einfach, wenn er das Publikum an entscheidenden Stellen ratlos stehen lässt.

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