Johatsu - Die sich in Luft auflösen

Dokumentarfilm | Deutschland 2024 | 90 Minuten

Regie: Andreas Hartmann

In Japan verschwinden jährlich rund 100 000 Menschen, die ihrem bisherigen Leben radikal den Rücken kehren und irgendwo anders von Neuem anfangen. Die Gründe sind vielfältig, etwa Angst, Scham oder Schulden. Der Dokumentarfilm porträtiert Menschen, die auf diese Weise verschwunden sind, ihre Angehörigen und Freunde, aber auch eine Unternehmerin, die bei diesem Untertauchen behilflich ist. Dabei zeigt er, dass der radikale Akt schmerzhafte Spuren, individuell wie sozial, hinterlässt, insbesondere in einer Gesellschaft, in der das Scheitern häufig auch als Schande verstanden wird. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Ossa Film
Regie
Andreas Hartmann · Arata Mori
Buch
Andreas Hartmann
Kamera
Andreas Hartmann
Musik
Jana Irmert · Mika Takehara
Schnitt
Kai Eiermann
Länge
90 Minuten
Kinostart
14.11.2024
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Doku über Menschen in Japan, die aus unterschiedlichsten Gründen ihrem bisherigen Leben den Rücken kehren und spurlos verschwinden.

Diskussion

Kann man in der modernen Welt, in der doch angeblich jeder überall einen digitalen Fingerabdruck hinterlässt, noch verschwinden? Es geht durchaus, wie der Film „Johatsu“ zeigt, und zwar selbst in Japan, dem Land des High-Techs und der angeblich engmaschigen sozialen Kontrolle. Wer verschwinden will, muss allerdings bereit sein, in eine andere Welt einzutauchen: in die Welt der Internet-Cafés, der Waschsalons und Stundenhotels, oder, wenn es hart auf hart kommt, auch in die Welt der Obdachlosenasyle. Vor allem aber in die Welt der Einsamkeit.

Wenn Menschen spurlos verschwinden

Der von Andreas Hartmann und Arata Mori inszenierte Dokumentarfilm „Johatsu - Die sich in Luft auflösen“ versammelt ein paar Schicksale von radikal vereinzelten Menschen, die aus allen Verwandtschaftsbeziehungen oder „regulären“ Berufskarrieren herausgefallen sind. Der ehemalige Firmenchef, der vor seinen erdrückenden Schulden geflohen ist und jetzt mehr oder minder in seinem Auto wohnt. Zwei junge Leute, die ihrem kriminellen Boss entkommen sind und sich in einem Hotelzimmer verstecken, ohne eine Perspektive auf ein bürgerliches Leben zu sehen. Oder der spielsüchtige Tagelöhner, der von der Hand in den Mund lebt und schließlich den Entschluss fasst, sich seiner Vergangenheit zu stellen.

Wenn jemand verschwindet, dann ist das nicht bloß eine individuelle Handlung, quasi ein persönliches Reboot, sondern ein sozialer Prozess, ein Eingriff in das gesellschaftliche Gefüge, der multiple Spuren hinterlässt. „Johatsu“ interessiert sich für alle Personen, die an diesem Prozess beteiligt sind. Für die Verschwundenen und für die zurückbleibenden Angehörigen, die die Verschwundenen vermissen. Für Privatdetektive, die nach den Verschwundenen suchen; schließlich für diejenigen, die den Verschwundenen beim Verschwinden und auch beim Verschwundenbleiben helfen.

Für letztere hat der Film noch ein bisschen mehr übrig als für alle anderen. Etwas für Saita, eine Frau mittleren Alters, die Leiterin eines „Night Moving“-Unternehmens ist, einer Firma, die Menschen hilft, welche ihren Wohnort rasch wechseln müssen oder eine komplett neue Identität aufbauen wollen. Saita hatte einst selbst den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen. Sie denkt nicht daran, ihn wieder aufzunehmen. Auch einige ihrer Mitarbeiter sind ehemalige Kunden. Saita hat ihr Leben ihrer Arbeit gewidmet. Nur einmal, erzählt sie, hat sie einen Tag Pause gemacht, da lag sie bewusstlos im Krankenhaus.

Der Tod als letzte Möglichkeit

Im Film sieht man sie vor allem im Auto, das sie als mobiles Büro zu nutzen scheint. Mehrmals wird sie bei beruflichen Telefongesprächen gefilmt. Die Logistik der Flucht aus einem nicht mehr zu ertragenden Alltag managt sie genauso pragmatisch wie die psychischen Probleme ihrer Kunden. „Das hört sich vielleicht hart an, aber wenn du dich wirklich umbringen willst, kann dich niemand daran hindern“, sagt sie zu einer Anruferin. Dass die einzige Alternative zum Verschwinden oftmals der Tod ist, scheint in „Johatsu“ immer wieder durch.

Tatsächlich ist das Leben als Verschwundener in gewisser Weise ein Leben im Limbo. Eines, das sich auf enge Bewegungsspielräume sowie auf wenige, zumeist nicht sehr intensive soziale Kontakte reduziert und die Menschen in eine andere, gleichförmige Zeitlichkeit hineinwirft. „Andere heiraten und bekommen Kinder, ich aber bin quasi steckengeblieben“, sagt eine junge Frau; dabei rinnen ihr Tränen über die Wange. Das ist eine Seltenheit in einem Film, in dem die meisten Menschen es scheinbar gelernt haben, ihrem Schicksal gefasst ins Auge zu sehen.

Der Schaulust sind Grenzen gesetzt

Sich auf diese Menschen einzulassen, bedeutet, ihren Blick auf die Welt bis zu einem gewissen Grad zu teilen. Damit befindet sich auch der Film „Johatsu“ ein Stück weit im Limbo. Um die Verschwundenen zu beschützen, sind Gesichter oder auch Ortsschilder bisweilen verpixelt; die Settings sind meist unpersönlich und detailarm, die Bildgestaltung reduziert. Auch der Schaulust sind in diesem klugen Film Grenzen gesetzt, der um den Wert blinder Flecken in unserer Gegenwart weiß.

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