Rhino
Coming-of-Age-Film | Ukraine/Polen/Deutschland 2021 | 101 Minuten
Regie: Oleh Senzow
Filmdaten
- Originaltitel
- NOSORIH
- Produktionsland
- Ukraine/Polen/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2021
- Produktionsfirma
- Arthouse Traffic/Cry Cinema/Apple Film Prod./Ma.ja.de. Fiction/DI Factory
- Regie
- Oleh Senzow
- Buch
- Oleh Senzow
- Kamera
- Bogumil Godfrejów
- Musik
- Andrej Ponomarjow
- Schnitt
- Karolina Maciejewska
- Darsteller
- Sergej Filimonow (Nashorn / Rhino) · Ewgenij Tschernikow (Mann im Auto) · Ewgenij Grigorew (Plus) · Alina Sewakowa (Marina) · Marija Schtofa (Nashorns Schwester)
- Länge
- 101 Minuten
- Kinostart
- 03.11.2022
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 18.
- Genre
- Coming-of-Age-Film | Drama | Gangsterfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Gangsterfilm über einen jungen Ukrainer, der in den 1990er-Jahren mit brutalen Gewaltexzessen zum gefürchteten Schläger aufsteigt und Teil unbarmherziger Kämpfe zwischen Mafiabanden wird.
Ein Junge mit kurzen Hosen. Ein Junge mit einem Stock, so wie Millionen von Jungen mit irgendeinem Stock durch die Gegend gehen. Ein Junge auf einem Sonnenblumenfeld. Er ist vielleicht zehn Jahre alt, vielleicht 12. Mit dem Stock schlägt er auf die Sonnenblumen ein, und schlägt ihre Köpfe ab. Eine, wie sich herausstellen wird, vorwegnehmende Szene, die ersten von unzähligen weiteren Schlägen.
Dann eine Prügelei mit anderen Jungen. Viele gegen einen, gegen den Jungen der ersten Szene, der die Hauptfigur des Films ist. Gerecht ist hier nichts, schon diese Kinder sind ziemlich brutal. Sie treten auf den Bauch, schlagen auf den Kopf. Und der angegriffene Junge hält einen kleinen Stock so wie später ein Messer. Sein Blick ist entschlossen, seine Lippen zusammengekniffen. Dazu hören wir nun aus dem Off getragene Geigenmusik. Sie suggeriert etwas Episches, Grundsätzliches, Tragisches, Mythisches.
Ohne erkennbaren Schnitt die Kindheit überbrückt
Die ersten zehn, zwölf Minuten dieses Films sind bewundernswert: In einer virtuosen ersten Sequenz ohne erkennbaren Schnitt wird die Zeit der Kindheit überbrückt. Eine fortwährend gleitende Kamera zeigt eine Familie und ihre Nachbarn auf dem Land, irgendwo in der Westukraine. Ein einfaches Leben. Die Männer sind tätowiert, sie trinken und dann schlagen sie ihre Frauen. Der Vater wird verhaftet; ist im Gefängnis. Die Schwester tanzt und träumt von Amerika, sie hat verschiedene Freunde, mit einem älteren Mann geht sie weg, irgendwann kommt sie dann mit einem Kind auf dem Arm nach Hause und ist wieder bei der Mutter. Der Bruder ist bei der Armee, muss nach Afghanistan. Dann ist er plötzlich tot. Die Hauptfigur weint.
All das hat in seiner Grundhaltung etwas Leichtes und Ironisches und in all der Depression auch merkwürdig Heiteres. Zugleich strahlt es das fatalistische Fazit aus: „So ist eben das Leben.“
Der empfindliche Junge wird zum gnadenlosen Gangster
Dann, nach der Beerdigung des älteren Bruders und den Tränen des Jüngeren, wird der gleichmäßig-elegische Zeitfluss zum Zeitsprung. Jetzt hat er große Muskeln, und in seinem Zimmer hängen Bilder von Bruce Lee und Bodybuildern. Er trägt eine Jeansjacke, hat über dem Stiernacken einen kurzgeschorenen Schädel. Er ist nun der Dorfhooligan, der mit ein paar Freunden Schutzgelder kassiert und Wehrlose bestiehlt. Man hätte gern gewusst, was zwischendurch geschehen ist, wie sich der fast empfindliche Junge, der aber Schläge gut einstecken kann, zu dem gnadenlosen, bulligen Mann brutalisiert hat. So wie man schon zu Beginn gern gewusst hätte, warum dieser Junge, den jetzt alle „Rhino“ nennen, von den Gleichaltrigen im Dorf gehänselt wurde.
Stattdessen sieht man prototypische Szenen und Klischees des Gangsterfilms: Männerbündische Rituale, Imponiergehabe, Konkurrenzkämpfe, die ersten Morde, der Aufstieg im Milieu, und dazwischen eine Mama, die gelegentlich mahnt und auf Tischsitten achtet, letztlich aber dem vermeintlich sensiblen Jungen alles verzeiht.
Unterbrochen sind sie nur von einem dramaturgischen Kunstgriff, der nicht völlig überzeugt: Die Handlung ist nämlich im Rückblick erzählt, dreimal sieht man „Rhino“ nachts in einem geparkten Wagen sitzend, wo er einem zweiten namenlosen Mann mittleren Alters sein Leben erzählt. Das alles geschieht in einer deutschen Kleinstadt, in die der Mann offenbar geflohen ist.
Gangsterfilm in einem gewalttätigen Land
Trotz allem ist dies auch ein unterhaltsamer, den Regeln des Genres folgender Gangsterfilm, der in seiner inszenatorischen Leistung imponiert. Die fast immer fließend-dynamische Kamera entfaltet einen ständigen Sog. Die in knappen Vignetten voranschreitende Handlung dagegen ist vorhersehbar: Aktion und Reaktion, Gewalt und Gegengewalt, eine kaum sichtbare Polizei, Frauen, die meist nackt und verfügbares Fleisch sind, und ein Milieu, in dem Männer Lederjacken tragen und Herrenhandtaschen.
Das erste postsowjetischen Jahrzehnt der 1990er-Jahre wird von Oleg Sentsow roh und ungeschönt gezeigt. Der Regisseur schildert die ukrainische Gesellschaft dieser Epoche als ein extrem gewalttätiges, von Mafiabanden und Oligarchen bestimmtes Land, in dem archaische Gewalt und „alttestamentarische“ Ehrbegriffe dominieren – Menschen werden hier mit den Füßen am Boden festgenagelt, Finger und Zehen abgeschnitten, eine Frau vor ihrem Mann vergewaltigt, ein Kleinkind vor den Eltern bedroht. Die Menge der Toten in diesem Film ist nicht zu zählen.
Die stereotype Formulierung, dieser Film sei „nichts für schwache Nerven“ ist in diesem Fall reine Beschwichtigung: Es liegt mehr als ein Hauch von Fetischisierung der Gewaltakte in der Schilderung ihrer banalen Anhäufung, eine klammheimliche Parteinahme mit dem Exzess. Insofern ist die Haltung der Macher zu ihrem Gegenstand zumindest uneindeutig.
Kein Reflex auf den Krieg in der Ukraine
„Rhino“ ist auch keineswegs einfach als Reflex auf den Krieg der letzten Monate abzutun, denn er war bereits ein Jahr zuvor fertiggestellt und hatte 2021 seine Premiere in Venedig. Das, was der Film zeigt und wie er es tut, ist weitaus ambivalenter. Auch ohne den augenblicklichen Konflikt in der Ukraine wäre dieser Film ins deutsche Kino gekommen, denn er ist – im Gegensatz zu deutschen Gangsterfilmen – vom Medienboard Berlin-Brandenburg gefördert worden, gemeinsam mit dem Ukrainischen „Ministerium für Kultur und Informationspolitik“ und dem polnischen Filminstitut.
Insofern wäre es ein großer Irrtum zu glauben, dass dieser Film durch den Krieg in der Ukraine irgendwie aktueller wird, oder die Gewalt eine andere, gar tiefere Bedeutung erhält. Im Gegenteil ähnelt Oleg Sentsows nüchtern-pragmatische, von einer Lust an der Einsicht ins Bestehende geprägte Perspektive der seines russischen Kollegen Alexej Balabanow (1959-2013), der in seinen beiden Filmen „Brat“ (1997) und „Brat 2“ (2000) Ähnliches versucht hat: Eine von den Umbrüchen und sozialen Verwüstungen der 1990er-Jahre inspirierte Gesellschaftskritik und kulturelle Bestandsaufnahme mit den Mitteln des Gangsterfilms zu leisten. Jeder Schlag eines Baseballschlägers über einen menschlichen Schädel steht auch für die Brutalität des entfesselten Marktes, die sich nicht so plastisch zeigen lässt, aber ähnliche Folgen hat, jede Schutzgeldzahlung steht für die soziale Korruption, jeder Bandenführer für einen Wirtschaftsmanager.
Oleg Sentsow, der auch das Drehbuch schrieb und aus vielen Gründen, nicht nur seinen vier Jahren in einem russischen Straflager, weiß, wovon er erzählt, legt nie nahe, besondere Empathie für seine Hauptfigur, diesen infantilen Schläger, primitiven Verbrecher und kühlen Mörder, aufzubringen, bloß weil er aus der Ukraine kommt. Der Regisseur zeigt seine ukrainische Heimat als ein innerlich brutales, gewaltverliebtes Land und die jungen Männer der 1990er-Jahre, die heute mit 45 bis 60 Jahren in der Ukraine auf allen Ebenen die Führungseliten stellen, als eine Generation ohne Werte und ohne Perspektive. Er zeigt den Boden, auf dem Nihilismus und Nationalismus gedeihen.