Aus einem Gefängnis heraus erscheint alles verlockend, was draußen ist. Vor den Augen der 16-jährigen Mädchen Myriam und Nour verblassen die Stäbe am Fenster ihres Hauses, als Nour ihrer besten Freundin und Nachbarin von klein auf ihren Verlobten Khaled zeigt. Zwar haben beide Mädchen schon früh die kulturelle Vorstellung in ihrem Land eingesogen, die in der Hochzeit die Erfüllung des weiblichen Lebens sieht, die muslimische Tunesierin Nour kann sich im Jahr 1942 jedoch tatsächlich viel von der Ehe erhoffen: Khaled und sie lieben sich wirklich und treffen sich nachts bereits heimlich beim Mondschein; ein Hindernis ist vorläufig nur die Arbeitslosigkeit des jungen Mannes, die vor der Eheschließung überwunden sein muss – Nours Vater droht bereits damit, die Hochzeit abzusagen.
Übers jüdisch-muslimische Zusammenleben im Tunesien der 1940er
Myriam dagegen hätte es nicht so eilig mit dem Heiraten, sieht sich von ihrer Mutter aber zur Ehe mit dem erheblich älteren Raoul gedrängt. Der ist ein wohlhabender Arzt und könnte die beiden jüdischen Frauen aus einer sich verschärfenden Notlage dauerhaft befreien: Die Mutter hat ihre Arbeit verloren, als die Franzosen die ersten antisemitischen Befehle der deutschen Besatzungsmacht umsetzten, und ihre Bekannten sticheln nun regelmäßig, wenn sie wieder einmal etwas schuldig bleiben muss. Myriam ist zu alledem von der Schule geflogen, weil sie Frankreichs oberstem Kollaborateur Pétain keinen Respekt gezollt hat, und soll dafür eine Geldstrafe bezahlen.
Was beide persönlich erleben, betrifft zunehmend auch die jüdische Gemeinschaft Tunesiens im Ganzen, die Anfang der 1940er-Jahre noch einige Größe hat. Die Deutschen sind bereits dabei, mit Hilfe der Franzosen die Juden auch in Nordafrika zu verfolgen, setzen aber auch darauf, die Einheimischen gegen die Kolonialmacht auszuspielen. Indem sie Sympathie für die muslimischen Araber heucheln, sind viele von diesen für die Nazi-Propaganda empfänglich, da sie bis dahin nur die Diskriminierung durch die Franzosen am eigenen Leib erfahren haben. Darunter auch Khaled und sogar Nour, die trotz ihrer Freundschaft immer auch neidisch auf die Bildungs- und Arbeitschancen von Myriam und deren Mutter war, die ihr als Muslimin von den Kolonialisten verwehrt blieb.
Herkunft, Religion und Geschlecht werden in Zeiten des Krieges zu Trennkeilen
Es ist eine sehr komplizierte gesellschaftliche Gemengelage, auf der die französische Regisseurin Karin Albou ihren zweiten Spielfilm „The Wedding Song“ aufgebaut hat. Herkunft, Religion und Geschlecht werden in Zeiten des Krieges zu Trennkeilen inmitten einer Gesellschaft, in der Unterschiede vorher kein Grund sein mussten, nicht miteinander zu verkehren. Albou verfolgt das Thema der Befreiungsbestrebungen aus einem traditionalistisch-religiösen Umfeld weiter, von dem bereits ihr Spielfilm-Debüt „Mein kleines Jerusalem“ (2005) handelte, fügt diesem mit dem historischen Aspekt aber noch weitere erschwerende Bedingungen hinzu.
Historische Aufnahmen bezeugen zu Filmbeginn die Bündnisse der Nazis mit den arabischen Staaten, die den dort lebenden Juden zum Verhängnis wurden, auch im Laufe des Films verstärken sich die antijüdischen Maßnahmen immer weiter. Antisemitische Propaganda dringt übers Radio in die Häuser, für die Schäden durch Luftangriffe soll die jüdische Gemeinde aufkommen, deutsch-französisch-tunesische Schergen – darunter Khaled, der bei der deutschen Kommandantur bereitwillig Arbeit gefunden hat – drangsalieren auch Myriam und ihre Mutter, schließlich kommt es zu den ersten organisierten Abtransporten.
Weibliche Passionsgeschichten
Diesen Einbruch des Naziterrors zeigt Karin Albou nah an ihren Figuren, die der Gewalt hilflos gegenüberstehen, auch wenn die bessergestellten Juden wie Raoul anfangs noch hoffen, vielleicht dem Schlimmsten zu entgehen. Daneben entwickelt die Regisseurin aber auch die Geschichte um die Heiratspolitik weiter, die zusätzliche Szenen der Schuld und des Schmerzes hervorbringt. Die grundsätzliche Harmonie zwischen Nour und Khaled verschiebt sich schon beim vorehelichen Sex, wenn der junge Mann seine Wünsche gegen ihre durchsetzt; nach der Hochzeit untersagt er gebieterisch seiner Frau den weiteren Kontakt mit Myriam und führt die antisemitischen Phrasen seines Arbeitgebers auch in ihrem Haus ein.
Für Myriam steht vor ihrer Eheschließung eine körperliche Tortur, bei der sie sich auf Wunsch ihres Mannes einer Wachsenthaarung unterziehen muss – sogar zwischen den Beinen, was Albou in konsequentem Naturalismus abbildet. Die Hochzeitsnacht mit Raoul ist danach von Myriams Angst und Verstörung geprägt, die sie nackt vor ihm flüchten lassen, bis ihr Mann aufhört, sie zu bedrängen.
Karin Albou gelingen viele eindrückliche Sequenzen, und „The Wedding Song“ füllt thematisch gleich mehrere Lücken: Sowohl die zeitweise durchaus blühenden, heute fast komplett verschwundenen jüdischen Gemeinschaften Nordafrikas als auch die schwierige Situation französischer Kolonien im Zweiten Weltkrieg tauchten in Filmen bislang nur selten auf. In der Vielzahl der einander überlagernden Motive verliert die Regisseurin allerdings zeitweise die Balance, sodass Kolonialismus, Kollaboration, Islam, Judentum, Frankreich, Tunesien, soziale und geschlechtliche Fragen, junge Liebe, Freundschaft und ihre Bedrohung zwar allesamt angespielt werden, vieles davon letztlich aber auch in der Luft hängen bleibt. Das wirkt sich auch auf die Nebenfiguren aus, von denen viele eher blass geraten, womit das angestrebte umfassende Zeitbild bei aller Genauigkeit im Detail Schwierigkeiten hat, sich zu entfalten. Am Ende sind es Myriam und Nour, deren Verhältnis der Film am genauesten erfasst – zwei Mädchen, die lernen, sich wieder auf ihre Freundschaft zu besinnen, auch wenn alle um sie herum sie auseinanderdrängen wollen.