Kabul Kinderheim
Drama | Dänemark/Deutschland/Frankreich/Luxemburg/Afghanistan/Katar 2019 | 90 Minuten
Regie: Shahrbanoo Sadat
Filmdaten
- Originaltitel
- PARWARESHGHAH
- Produktionsland
- Dänemark/Deutschland/Frankreich/Luxemburg/Afghanistan/Katar
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- Adomeit Film
- Regie
- Shahrbanoo Sadat
- Buch
- Shahrbanoo Sadat
- Kamera
- Virginie Surdej
- Schnitt
- Alexandra Strauss
- Darsteller
- Qodratollah Qadiri (Qodrat) · Sediqa Rasuli (Sediqa) · Masihullah Feraji (Feraji) · Hasibullah Rasooli (Hasib) · Ahmad Fayaz Omani (Fayaz)
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- 04.11.2021
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 12.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Im zweiten Teil ihrer geplanten Pentalogie springt die afghanische Regisseurin Shahrbanoo Sadat ins sowjetisch besetzte Kabul kurz vor der Machtübernahme der Mudschaheddin, wo ihr 15-jähriger Held wegen des illegalen Verkaufs von Kinotickets ins Kinderheim kommt.
Wer denkt bei dem Titel „Kabul Kinderheim“ nicht sofort an Sozialrealismus der beklemmendsten Art, mit großäugigen Waisen inmitten von Kriegsgräueln, auf dass man, eingenebelt von Wüstenstaub, sowieso noch nie Begriffenes über ein dauerkrisengeschütteltes Land ein weiteres Mal erschüttert zur Kenntnis nehme?
Völlig falsche Fährte. Stattdessen hat die 1990 geborene afghanische Regisseurin Shahrbanoo Sadat dem zweiten Film ihrer geplanten Pentalogie nach „Wolf and Sheep“ (2016) sogar einen Hauch von Genre-Trash angedeihen lassen, mit Zitaten aus Bollywood- und Kung-Fu-Filmen der 1970er-Jahre. Nicht nur mit dem Freeze Frame in der letzten Einstellung spielt sie auch selbstbewusst auf François Truffauts „Antoine-Doinel“-Zyklus an, und wenn man sich durch internationale Kritiken liest, wo sie außer mit Truffaut bereits mit Abbas Kiarostami verglichen wird, scheinen ihr diese großen Fußstapfen gut zu passen.
Jugendliches Erleben von Macht und Ohnmacht
„Kabul Kinderheim“ (auf Englisch „The Orphanage“, also genau wie ein Horrorfilm von 2007, das Regie-Debüt Juan Antonio Bayonas) erzeugt Realismus vor allem durch seine reife, dabei spielerische und um Perfektion unbekümmerte Nonchalance, mit der jugendliches Erleben von Macht und Ohnmacht zum cinematografischen Ur-Erlebnis wird, ohne dass der Film den realen Horror ideologischer Kämpfe durch Einhegung ins Popkulturelle verharmlosen würde.
Es ist eine Wiederbegegnung mit dem inzwischen 15-jährigen Qodrat (Qodratollah Qadiri), dem Hirtenjungen und Außenseiter aus „Wolf and Sheep“. Vom ländlichen Afghanistan der 1970er-Jahre springt Sadat jetzt also ins sowjetisch besetzte Kabul des Jahres 1989, wo sich Filmfan Qodrat mit dem Verkauf von Kinotickets auf dem Schwarzmarkt durch den Tag mogelt. Er wird erwischt und kommt ins Heim. Das wird weder als Paradies noch als Hölle gezeichnet, sondern als ein hinzunehmender Ort, an dem man Kleidung, Essen und ein Bett bekommt, Unterricht auf Russisch erhält und ganz erträgliche Freunde findet. Die unverschleierten Lehrerinnen sind charmant, abends spielen die Jungen Schach, und einmal fliegen sie sogar nach Moskau ins Pionierlager, wo Mädchen nicht die Anderen, sondern Gleiche sind. Natürlich gibt es auch einen korrupten „Zimmersprecher“, dessen Willkürherrschaft aber bald vorbei sein wird, weil man dem strengen, aber fairen Aufseher nichts vormachen kann.
Ein mit eigenen Augen zu entdeckender Möglichkeitsraum
Schon in den ersten schnörkellosen Bildern von Kamerafrau Virginie Surdej und den nie einfältig erklärenden oder hochtrabend dramatisierenden, sondern cool elliptischen Schnitten von Alexandra Strauss erzeugt der Film eine untergründige Spannung, bei der lange überhaupt nicht klar wird, wohin sie führt. Es herrscht eine Atmosphäre, wie sie 1989 für Jugendliche offenbar an vielen Orten der Welt zu spüren war: Etwas Unwägbares liegt in der Luft, ein noch nicht von Handydisplays abgelenkter, mit eigenen Augen zu entdeckender Möglichkeitsraum zwischen Aufbruch und Gefahr, Geborgenheit und Ausgeliefertsein.
Auf untermalende Musik verzichtet Sadat, stattdessen switcht sie ein paarmal unvermittelt nach Bollywood: Als sich Qodrat in eine Mitschülerin verliebt, singen die beiden plötzlich (zu alter Original-Filmmusik) herrlich asynchron von der Liebe, reiten durch den Wald und fallen sich keusch in die Arme. In Afghanistan, sagt Sadat, seien Bollywood-Filme nicht nur eine große Industrie, sondern auch ein Weg, seine sonst streng zurückgehaltenen Gefühle rauszulassen.
Verblüffend dokumentarisch
Basierend auf den Tagebucheinträgen des Schauspielers und Set-Designers Anwar Hashimi, der zugleich den Aufseher im Kinderheim spielt, vermeidet Sadat in ihrem Drehbuch jede psychologische Entwicklung und den großen dramaturgischen Bogen. Ihre Laiendarsteller hält sie zu einem reduzierten Spiel an, das verblüffend dokumentarisch wirkt, obwohl hier niemand improvisiert, sondern sich jede(r) strikt an das Skript hält. Auch dadurch gelingt es Sadat, Macht als etwas zu inszenieren, das um die Frage kreist, wer wen ansehen muss oder darf oder wer wem welche Ressourcen schuldet. Das gilt im Mikrokosmos des Kinderheims wie im Großen der Weltpolitik, die in den oft unverbundenen Szenen immer sichtbarer wird. Einer Badeszene im Fluss folgt der Sturz eines Sowjet-Panzers eine Böschung hinab.
Meist zeigt die Regisseurin die Jugendlichen als Beobachter, die sich einen Reim auf all das machen müssen und letztlich das Vorgefundene – ein Wrack, das Heim, ihre Zeit – nach Brauchbarem durchsuchen. Wie es mit der Liebe weitergeht? Weiß keiner. Macht aber nichts. Nur weil „Kabul Kinderheim“ von Jugendlichen handelt, ist der Film noch lange kein „Coming of Age“-Film.
Dinge passieren, die ihm niemand erklärt
Ein junger Mensch bleibt hier aus seiner subjektiven Sicht, wer er ist, während um ihn herum Dinge passieren, die ihm niemand erklärt. Warum die nette Russischlehrerin plötzlich verschwindet, ein Junge in die Irrenanstalt muss, oder warum die russischen Bücher und Porträts überhastet im Innenhof aufgetürmt und verbrannt werden müssen: Es geschieht einfach, die Jungen verstehen es nicht. Oder nur halb. So wie es immer war und immer sein wird bei Machtübernahmen, in Kriegen.
Sadat musste mit monatelangen Unterbrechungen in Tadschikistan drehen, teilweise entstanden die Russland-Szenen auch in Norddeutschland. Wie sie sagt, hat sie die erzählte Zeitspanne von eigentlich drei Jahren von 1989 bis zur Machtübernahme der Mudschaheddin 1992 absichtlich verkürzt, um zu vermeiden, dass die Protagonisten erwachsen würden. Eine kluge Entscheidung, denn so handelt Held Qodrat am Ende nicht aus Einsicht in politische Verhältnisse, sondern als jemand, der buchstäblich im Kino lebt. Der weiß, dass dort gegen das Gefühl der Ohnmacht vor den Schurken nur hilft, die Geschichte umzuschreiben, mit lächerlich durchschaubaren Tricks. Hauptsache, es funktioniert.