Matt Green ist nicht in Eile. Für den Wahl-New-Yorker spielt Zeit kaum mehr eine Rolle, denn er ist schon viel länger unterwegs als ursprünglich geplant. 2009 kündigte er seinen Job als Ingenieur und fing zu gehen an. Von Rockaway Beach, New York, nach Rockaway Beach, Oregon, einmal quer durch die USA. Jetzt will er ganz New York City ablaufen, alle Straßen, Brücken und Pfade der bevölkerungsreichsten Stadt des Landes, insgesamt knapp 15.000 Kilometer. Zu Beginn seines Projektes rechnete er damit, dreieinhalb oder vier Jahre zu brauchen, am Ende sind es mehr als sieben.
Der Dokumentarfilmer Jeremy Workman hat ihn bei seinen Spaziergängen begleitet. Das Resultat ist der Film „New York – Die Welt vor deinen Füßen“, ein Doppelporträt über die Stadt New York und einen ihrer Flaneure. Denn die Kamera beobachtet die Metropole durch Greens Augen und puzzelt aus dessen Erzählungen nach und nach auch die Geschichte des Gehers bruchstückhaft zusammen.
Von Unterkunft zu Unterkunft
Das fängt damit an, dass Green sich nach seiner Kündigung einfach keinen neuen Job mehr suchte. Er besitzt keine eigene Wohnung, sondern zieht als urbaner Nomade von Unterkunft zu Unterkunft. Mal schläft er auf der Couch eines Kumpels, mal hütet er die Wohnung für Reisende oder wird als Cat-Sitter engagiert. Was für viele Menschen stressig wäre, bedeutet für Green maximale Flexibilität und Freiheit. Sein Projekt gibt ihm nicht nur Halt, sondern auch Struktur.
Wie andere New Yorker jeden Morgen zur Arbeit gehen, macht Green sich täglich einen Routenplan und fährt mit der Subway in ein neues Viertel. Er ist neugierig und sagt, dass schon sein erstes Projekt seine Art zu reisen verändert habe: Der Begriff der „Sehenswürdigkeit“ wird plötzlich relativ, wenn man den ganzen Tag eine Landstraße im Nirgendwo entlanggeht oder einen verlassenen Strand im Winter abspaziert. „Beim Gehen kann man immer anhalten und sich umschauen.“
Ein Flaneur, wie er im Buche steht
Die Entschleunigung macht vieles sichtbar, und damit fällt Green in einer Metropole wie New York City natürlich auf. Denn ein Mensch, der scheinbar ziellos herumläuft, ist verdächtig. Einen Aussteiger kann man Green nicht nennen, denn er ist täglich mitten drin im Stadtleben, nimmt jedoch schlichtweg anders Teil als die meisten. Er ist Beobachter und zugleich Teilnehmer am urbanen Leben, was ihn zu einem Vermittler und einer Schlüsselfigur macht, um die Stadt besser zu verstehen. So wie sich der Flaneur bei Baudelaire oder Benjamin Notizen macht, trackt Green seine Routen per GPS, knipst Fotos und schreibt Beobachtungen auf. Diese gesammelten Dokumente veröffentlicht er auf seinem Blog „I’m just walking“. Der Blick des Flaneurs ist, anders als der eines Sightseers, ein weitschweifender. Matt Green ist ein Flaneur, wie er im Buche steht.
Seine Neugier und seine Exkurse haben ihn zu einem Experten auf so mannigfaltigen Gebieten wie Stadtgeschichte, Architektur und Botanik gemacht. So weiß er alles über die sogenannten New Yorker „Churchagogues“ – Kirchen, die in ehemaligen Synagogen entstanden sind, oder er kann zu dem historischen Haus führen, in dem 1916 die erste Klinik für Geburtenkontrolle eröffnet wurde. Mit der Kamera sammelt er Wandmalereien, die an den 11. September erinnern, aber auch Schilder von Friseurläden mit besonders absurden Namen.
Eine wandelnde Provokation
Greens Minimalismus ist keine Mode oder Pose, sondern wurzelt in der tiefen Überzeugung, dass Begegnungen, Erlebnisse und Erinnerungen einen nachhaltigeren Wert haben als ein Job mit hohem Jahreseinkommen. Green lebt, was Achtsamkeitsratgeber als Lifestyle predigen. Das macht ihn zu einer wandelnden Provokation und einer Gegenthese zum Kapitalismus, für den New York wie keine andere Stadt der Welt steht. Er lebt von durchschnittlich 15 Dollar am Tag.
Ganz zu greifen bekommt ihn der Regisseur allerdings nie, aber das ist wohl Teil von Greens Persönlichkeit. Auf die Frage, weshalb er das alles mache, weiß er keine Antwort. Aber auch das scheint ihm keinen Stress zu bereiten, sondern eher die Basis seiner ansteckenden Tiefenentspannung zu sein. Fast wirkt es, als habe seine Ziellosigkeit ein System, und man wünscht sich, kurz mitgehen zu können, um hinter sein Geheimnis zu kommen und an dieser sorglosen Genügsamkeit teilzuhaben.
„New York – Die Welt vor deinen Füßen“ ist immer dann am besten, wenn Green mit Passanten ins Gespräch kommt, sich bei einem Kaffee oder einem Bier ihre Geschichten anhört und ihnen dann von seinem Projekt erzählt. Manche schließen sich ihm kurzerhand für ein paar Straßenzüge an und gehen dann wieder ihre eigenen Wege.