Die verglaste Front eines modernen Wohnhauses im Schweizer Tessin bietet während der Abendstunden ein Schattenspiel durch die halb offene Jalousie. In einem kurzen Zeitfenster bewegt sich die Silhouette einer Frau durch das hell erleuchtete Zimmer, während sie sich für ihre tägliche Lauf-Routine ankleidet. Ein heimlicher Beobachter, der von der Regelmäßigkeit dieser vulnerablen Momente zu wissen scheint, verfolgt ihre hektischen Bewegungen aus einem weißen Kleintransporter heraus, den er in sichtbarer Nähe vor dem Zaun geparkt hat.
Geschickt und subtil führt Francesco Rizzi in seinem Debütfilm „Cronofobia“ von Beginn an Erwartungen in die Irre und verwandelt die Unheimlichkeit des anfänglichen Verfolgungsszenarios in eine Geschichte über miteinander geteilte Heimsuchungen. Anna, die intensiv und sensibel von Sabine Timoteo verkörpert wird, läuft als Joggerin in der Dämmerung ihren eigenen Gefühlen davon, die sich an einer Bahnschranke plötzlich in einem unbändigen Schrei entladen, verschluckt vom Lärm des vorbeirasenden Zuges. Unter den Blicken ihres lange namenlos bleibenden Beobachters, gespielt von Vinicio Marchioni, kämpft sie gegen eine überwältigende Trauer an.
Als sie wenig später von einem ungebetenen Besuch ihrer besorgten Eltern überrascht wird, sperrt sie sich im Nachthemd versehentlich aus dem Haus aus. Ihre entschlossene Flucht in den Wagen des Mannes, dessen Identität sie nicht kennt, setzt ein intimes Spiel um Nähe und Distanz in Gang.
Vom Verlust gezeichnet
Da Anna über Schlaflosigkeit klagt, bittet sie ihren wortkargen Begleiter darum, sie auch an den folgenden Tagen durch die Nacht zu fahren. Mit großer Bestimmtheit weist sie dabei jedoch seinen Versuch, sich persönlich vorzustellen, zurück. In schweigendem Einvernehmen lässt der Mann sich stattdessen in Annas Leben einführen, das vom Stillstand gezeichnet ist. Auf ihrem Esstisch liegt ein unberührtes Gedeck neben einer halb leeren Schachtel Zigaretten, und die an ihre Kommode gehefteten Fotos zeugen von einem Partner, den der Tod erst vor kurzem aus dem Leben gerissen hat. Intuitiv greift Annas Besucher in ihrem Bad nach einer angestaubten Parfümflasche und umhüllt sich mit dem ihm fremden Duft. Die vom Verlust gezeichnete Frau lässt ihn wortlos gewähren und ermutigt sogar sein Bleiben.
Immer wieder werden die Szenen ihrer vorsichtigen Annäherung mit Momenten aus dem Alltagsleben des Mannes unterbrochen, die nicht weniger rätselhaft erscheinen. Seine Chefin, die zugleich seine herrische Geliebte ist, nennt ihn auch während ihrer intimen Treffen nur bei seinem Nachnamen: Suter. Ihre Agentur überprüft durch das Entsenden von Testkäufern die Integrität von Angestellten in verfänglichen Situationen und meldet die Verfehlungen dann ihren Vorgesetzten. Durch seine Wurzellosigkeit gehört Suter zu ihren besten Mitarbeitern, in seinem Kleintransporter findet sich eine ganze Garderobe voller Kostüme und ein Schminktisch. Mühelos gleitet er von einer Identität in die nächste, ohne über einen festen Wohnsitz zu verfügen.
Intensität ohne Ausbuchstabieren
In sorgfältig komponierten Einstellungen transportiert Francesco Rizzi die tiefe Einsamkeit seiner Figuren und lässt sie einander in behutsamen Umkreisungen annähern. Die unterkühlten Farben in den hellen und sterilen Räumen, durch die Suter sich bewegt, werden von Annas dunklen Zimmern kontrastiert und erzeugen atmosphärisch zwei komplementäre Weisen der Verlorenheit. Dabei entwickelt Rizzi immer wieder Szenen von bemerkenswerter Intensität, gerade weil er auf das Ausbuchstabieren von Dialogen und Handlungen verzichtet. Fragmentarisch und vielschichtig entwickelt „Cronofobia“ stattdessen Darstellungsformen des Psychischen. Selbst die Namen der Protagonisten erzeugen Assoziationen: Als Palindrom lässt sich „Anna“ rückwärts wie vorwärts lesen, verweist also auf eine Austauschbarkeit, während „Suter“ sich auf die Naht zurückführen lässt – in Bezug auf eine Wunde, aber auch die filmische Technik der „Suture“.
Auch wenn Annas Trauma zunächst im Mittelpunkt zu stehen scheint, wird doch sehr bald deutlich, dass die Anziehungskraft, die sie auf Suter ausübt, mit seinen eigenen Verletzungen in enger Verbindung steht. In einem gemeinsamen Übertragungsprozess finden die beiden ohne viele Worte einen Weg, sich mit dem zu konfrontieren, was sie immer wieder ins Bodenlose fallen lässt. Die titelgebende „Angst vor der Zeit“, die mit der Realisierung des Traumas und der Akzeptanz des Weiterlebens verbunden ist, wird dabei im Film kunstvoll durch ein Gedicht von Charles Bukowski zum Ausdruck gebracht. „Nirvana“, ein Gefühl, das dort durch eine kurze Einfaltung der Zeit in einem verschneiten Autobahnrestaurant beschworen wird – es wird auch zum Sehnsuchtsort der Protagonisten, einem geteilten mentalen Raum, von dem aus beide die Kraft finden, der Vergänglichkeit ins Gesicht zu sehen.