Es ist kein Morgen wie jeder andere für Lara. Das zeigen die ersten Bilder, lange bevor man weiß, dass sie heute Geburtstag hat. In aller Frühe liegt sie wach im Bett; ihr Blick scheint leer und traurig, vielleicht deprimiert; man spürt, dass es keinen richtigen Grund gibt, aufzustehen. Es überrascht deshalb nicht, als sie, nachdem sie sich doch mit schweren Bewegungen erhoben hat, zum Fenster geht, auf einen Stuhl steigt und mit dem Gedanken zu spielen scheint, sich hinunterzustürzen.
Ob sie es getan hätte? Das liegt im Auge des Betrachters und dem Bild, das man von dieser Frau erst noch entwickeln muss, der Antwort auf die Frage, wie sehr hier Tristesse und Lebensmüdigkeit zu überwiegen scheinen, und ob nicht doch eher alles ein Test ist, ein abwägendes, souveränes Spiel, das eine ältere Frau nicht zum ersten Mal mit sich selbst, dem Leben und ihrem Überdruss daran spielt: kühl, sarkastisch, am Rande des Zynismus.
Zur Entscheidung kommt es gar nicht, denn vorher klingelt es an der Wohnungstür. Dies ist der erste einer ganzen Reihe von Momenten in „Lara“, die unter anderem auch ein guter Witz sind.
Vielleicht nur ein bitterer Scherz
Der zweite Spielfilm von Jan-Ole Gerster knüpft insofern an seinen Erstling „Oh Boy“ an, als auch „Lara“ eine oft perfekte Balance zwischen Schwermut und Humor hält, Heiterkeit und Melancholie vermischt, und man sich als Zuschauer fragt, wie sehr sich die Titelheldin manchmal einen bitteren Spaß aus ihrem Leben macht. Zumindest umspielt immer wieder ein Lächeln das Gesicht von Corinna Harfouch, und sei es nur, dass ihre Figur lacht, weil sie sich in ihrer pessimistischen Sicht auf die Dinge bestätigt fühlt. Oder handelt es sich doch vor allem um eine traurige Geschichte, die vom Zuschauer Ernst und Mitleid erwartet?
Es ist die Polizei, die an der Tür klingelt. Man brauche sie als Zeugin für eine Hausdurchsuchung, erklärt der Beamte, sie sei ja schließlich eine Kollegin. Die folgenden Szenen erzählen in wenigen Minuten en passant einiges über Lara Jenkins: Sie wird an diesem Tag 60 Jahre, wohnt im Berliner Hansaviertel und ist frühpensioniert; offenbar ist irgendetwas vorgefallen. Ihr Sohn Viktor, ein Pianist, spielt am Abend ein wichtiges Konzert, bei dem er erstmals auch eine eigene Komposition vorstellt. Doch auch die Beziehung zu ihrem Sohn ist offenbar in irgendeiner Form gestört.
Ein Versuch, reinen Tisch zu machen
Im Folgenden begleitet der Film die Titelheldin auf ihrem Weg durch den Tag, der auch einer durch ihr Leben ist. Auch hierin liegt eine Ähnlichkeit zu „Oh Boy“: ein Tag in Berlin, eine Hauptfigur, die ständig in Bewegung ist, halb getrieben, halb absichtsvoll, driftend, treibend, ausweichend, dann wieder Konfrontation suchend; Begegnungen und kurze Episoden, die zum Teil zufällig sind, sich mit anderen aber bald zu einem repräsentativen Mosaik fügen.
Offenbar will Lara an diesem Tag mit einigen Dingen „reinen Tisch machen“. Sie hebt auf der Bank ihren kompletten Kontobestand ab, sie erwirbt ein Abendkleid für das Konzert, zu dem sie anscheinend aber gar nicht eingeladen ist. Sie kauft aber auch alle Restkarten auf, besucht ihre alte Arbeitsstelle in der Stadtverwaltung, wo es zu ziemlich befangenen Begegnungen mit Ex-Kolleginnen kommt, deren Scheu oder Angst spürbar ist. Man begreift, dass Lara offenbar keine Freunde hat; ein Zufallstreffen mit Viktors Freundin und Laras Besuch bei ihrer eigenen Mutter sowie die kurze Konfrontation mit Viktor zeigen Laras Entfremdung auch engsten Angehörigen gegenüber. Gegenseitige Verletzungen und eine grundsätzliche Unfähigkeit zu kommunizieren werden erkennbar.
Der Fluch der schwarzen Pädagogik
Aber was ist hier eigentlich los? Einer Erklärung kommt am ehesten das sich allmählich entfaltende Wissen um Laras Vergangenheit nahe. In jungen Jahren war sie selbst eine hochbegabte Pianistin. Aber sie gab die Musik auf, weil sie sich für „nicht gut genug“ hielt. Als Lara ihren alten Professor trifft, bestätigt dieser eitel und selbstsicher, dass alles eine Finte war und dass solche Finten zu seiner Pädagogik der Demütigungen gehören. Jeder Mensch habe das Talent, aber nicht jeder die Kraft, sich gegen Widerstände durchzusetzen – „entweder man hat es, oder man hat es nicht.“
Lara muss erkennen, dass sie ihre Chancen vielleicht nur durch Zufall verpasst hat, und dass sie die schwarze Pädagogik, die an ihr praktiziert wurde, selbst verinnerlicht und auf ihren Sohn übertragen hat. Doch es geht nicht um Läuterung der Figuren. Zwar läuft alles auf das Konzert am Abend zu. Aber auch dies bietet keine reinigende Erkenntnis, sondern variiert nur die Geheimnisse und Widersprüche, in denen die Figuren verhakt bleiben.
„Lara“ stellt die Frage nach der Kunst; danach, wie viel Genie und Talent ermöglichen, wie viel Arbeit und Strenge und mitunter auch Härte nötig sind. Es ist zuallererst ein Film über Kunst und Künstler, über den Preis der Perfektion, über Disziplin, Gewalt und Selbstverletzung, am Beispiel der Musik, aber auch darüber hinaus, weshalb man „Lara“ unschwer als eminent persönliches Werk von Jan-Ole Gerster verstehen kann, auch darin eine Fortsetzung von „Oh Boy“. Zumal Tom Schilling als Viktor durchaus eine sieben Jahre ältere Version seiner Figur des Ex-Studenten Niko Fischer sein könnte.
Disziplin vs. Sich-gehen-lassen
Wo „Oh Boy“ von Erziehung handelt und ein Film über den Konflikt zwischen Disziplin und Sich-gehen-lassen ist, steht Lara immer auf beiden Seiten zugleich; sie ist Mutter und Tochter, Lehrerin und Schülerin, auch wenn sie diese zweite Seite erst wieder neu in sich entdeckt.
Da sie aber immer die übermächtige, brutal herrschsüchtige Mutter bleibt und mit ihren brüsken, empathielosen Bemerkungen oft Recht hat – und trotzdem grundsätzlich im Unrecht ist –, ist dies mindestens ebenso auch ein Film über die Macht der Mütter, über Eltern und Kinder und die Verhältnisse der Generationen sowie den Sadomasochismus, der nahezu jede Familie durchzieht.
Denn was denkt Lara über ihren Sohn Viktor und dessen Sieg über die Dämonen, an denen sie selbst gescheitert ist? Sie ist gewiss stolz, aber auch neidisch und begegnet Viktors Kompositionen mit Liebe wie Verachtung.
Kluge Selbstkritik des Bildungsbürgertums
„Lara“ ist ein ganz außergewöhnliches Werk: über Kunst, über die Familie, über Einsamkeit; ein Film über den Versuch, ein verlorenes Leben zurückzuerobern. Der Schnitt von Isabel Meier ordnet diese facettenreichen Eindrücke sensibel zu prägnanten Empfindungsmomenten; die Kamera von Frank Griebe lässt ein vergessenes, neben den Postkarteneindrücken dahinsimmerndes altes West-Berlin zwischen Kantstraße und Stuttgarter Platz, Hansaviertel und Ku’damm sichtbar werden, das vor allem dem Erfahrungshorizont der Hauptfigur entspricht, also einem beschränkten. Der äußere Panzer einer ihre Gefühle unterdrückenden Frau hat zwar zunehmend Risse, doch am Ende siegt die Disziplin.
Mit „Die Klavierspielerin“ von Michael Haneke sollte man „Lara“ schon deshalb nicht vergleichen, weil hier kein Vulkan unter der Kruste lodert, keine sexuelle oder lebensweltliche Frustration, kein enttäuschter Exzess, sondern eher die Angst davor, sich einmal gehen zu lassen. Diese Frau ist zu nichts wirklich fähig. Jan-Ole Gerster und seinem Ensemble gelingt es, alle allzu naheliegenden, oberflächlichen Assoziationen zu überschreiten und in filmischer Form eine kluge Selbstkritik des Bildungsbürgertums zu präsentieren, die wie jede gelungene Kritik stets auch eine rettende ist.