Fatima (2015)
Drama | Frankreich/Kanada 2015 | 74 Minuten
Regie: Philippe Faucon
Filmdaten
- Originaltitel
- FATIMA
- Produktionsland
- Frankreich/Kanada
- Produktionsjahr
- 2015
- Produktionsfirma
- Istiglal Films/Arte France Cinéma/Rhône-Alpes Cinéma/Possibles Média
- Regie
- Philippe Faucon
- Buch
- Philippe Faucon
- Kamera
- Laurent Fenart
- Musik
- Robert Marcel Lepage
- Schnitt
- Sophie Mandonnet
- Darsteller
- Soria Zeroual (Fatima) · Zita Hanrot (Nesrine) · Kenza Noah Aïche (Souad) · Chawki Amari (Vater) · Dalila Bencherif (Leila)
- Länge
- 74 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
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Französisches Sozialdrama als Lehrstück über Entfremdung, Integration und Identität
Als die aus dem Maghreb stammende Fatima ihre ältere Tochter Nesrine zum Arzt begleitet, weil diese mit dem Stress ihrer Ausbildung nicht mehr klarkommt, nimmt sich der freundliche Arzt auch der Mutter an. Sein Befund: Mutter und Tochter verhielten sich psychisch wie physisch wie kommunizierende Röhren. Der Mediziner würde sicher noch mehr staunen, wenn er auch noch Fatimas jüngere Tochter Souad in Augenschein genommen hätte.
Soll man einem diskursiven Lehrstück über Entfremdung, Identität und Integration vorwerfen, dass die Handlung, die man eher als mit realistischen Versatzstücken verzierte Versuchsanordnung charakterisieren sollte, recht konstruiert erscheint? Der Film von Philippe Faucon, in Frankreich ein vielfach prämierter Überraschungserfolg, spielt eher in konzentrierter, fast schon Brecht’scher Manier widersprüchliche Haltungen und ihre Konsequenzen dynamisch durch.
Nachdem sie sich von ihrem Ehemann getrennt hat, sorgt Fatima für ihre beiden Töchter, indem sie als Reinigungskraft arbeitet. Ihr Französisch ist schlecht, ihre Bildung mangelhaft, aber ihre Disziplin umso bewundernswerter. Nesrine hat gerade ein Medizinstudium begonnen und liebt ihre Mutter dafür, dass seit trotz ihrer beschränkten Möglichkeiten alles versucht, der Tochter den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Ein Scheitern kommt für die eifrig lernende Nesrine nicht in Frage. Was Selbstdisziplin und Selbstüberforderung betrifft, versucht sie ihrer Mutter zu entsprechen. Allerdings wird sie immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass sie sich in ein Milieu begibt, in dem sie sich als „fremd“ erfährt. Nesrine zieht von Zuhause aus, um besser lernen zu können, wird aber von Fatima weiter bekocht. In ihrer WG erlebt sie die Herausforderungen und Verlockungen dessen, was die Mutter als „französische Lebensart“ fürchtet. Zugleich muss Nesrine damit zurechtkommen, dass ihre „Emanzipation“ in ihrer Community argwöhnisch beobachtet und kommentiert wird.
Nesrines jüngere Schwester Souad hat sich von ihrer Herkunftswelt deutlich entfernt. Sie, mitten in der Pubertät, fühlt sich als junge, allerdings durch ihre Herkunft stigmatisierte Französin. Souad ist bockig, aufsässig, flirtet mit Jungs, konsumiert, beschimpft „alte Voyeure“ im Park und strenge Sportlehrer, schwänzt die Schule und verweigert sich dem herrschenden Leistungsdruck. Die Sprachschwierigkeiten der Mutter verachtet sie und nutzt sie zugleich als Freiraum. Vor allem aber macht sie die Existenz der Mutter für ihr Unbehagen verantwortlich. Bevor sie als Putzfrau arbeiten müsse, würde sie eher zur Diebin. Der gestressten Fatima fehlt es an Autorität, um der aufsässigen und hochmütigen Tochter entsprechend gegenüberzutreten. Mit ihrem Vater geht Souad erstmal shoppen oder übt für den Führerschein.
Schicht um Schicht, Szene um Szene entwirft der Film ein Bild von Ungleichzeitigkeiten, in dem Unsichtbarkeit, Überanpassung und Rebellion gleichermaßen defizitäre Strategien in Auseinandersetzung sind mit dem, was gerne als „Leitkultur“ gehandelt wird. Die Verhältnisse sind so fragil, dass der Alltag von Fatima eigentlich schon nicht mehr funktioniert, als er gerade so noch zu funktionieren scheint. Als sie sich bei einem Sturz verletzt und nicht mehr arbeiten kann, zeitigt ihre permanente Überforderung psychosomatische Folgen. Damit beginnt ein Sozialmärchen, das an thematisch verwandte Filme aus den 1970er- und 1980er-Jahren erinnert, etwa an „Shirins Hochzeit“ (1975) von Helma Sanders-Brahms oder an „Die Kümmeltürkin geht“ (fd 25 154) von Jeanine Meerapfel. Fatima nutzt ihre neu gewonnene „Freizeit“, um ihre Situation zu reflektieren und bringt ihre Gedanken trefflich zu Papier. Sie erkennt, dass ihre unsichtbare Arbeit als Putzfrau es den privilegierten Französinnen überhaupt erst ermöglicht, sich jenseits des Familienlebens zu emanzipieren, während die Putzfrau zwei Haushalte zu führen hat. Sie erkennt, dass die Kinder der Migranten „von der Sprache her gesehen“ keine Eltern haben. Oder eben die Wertlosigkeit der Eltern in der Gesellschaft erleben und deshalb potentiell den Stolz auf ihre Kultur verlieren.
Kurzum: Fatima durchschaut die Verhältnisse, unter denen sie leidet. Sie weiß um die Tugendprobe, wenn ihre Arbeitgeberin Geld in der Wäsche „vergisst“, um ihre Ehrlichkeit zu prüfen. Sie weiß um Schwarzarbeit und Sozialabgaben und dass die Aussage, auch ihre Tochter studiere Medizin, für Befremden sorgt. Dieser ausgestellte Lernprozess und die Analyse überfordernder Verhältnisse aus der Perspektive migrantischer Gemeinschaften mag in Zeiten wachsender Islamophobie und Rassismus politisch angezeigt sein. Allerdings belässt es der Film „Fatima“ nicht bei der Bestandsaufnahme, sondern will eine positive Perspektive auf die Probleme und Konflikte in der Manier eines Melodrams zumindest skizzieren. Dass Fatima sich als Persönlichkeit entwerfen darf, dass Nesrine letztlich trotz aller Widrigkeiten die Aufnahmeprüfung schafft und trotzdem einen Freund findet, dass sich Souad „solidarisch“ für sie freut und mit ihr feiern will, dass Fatima schließlich den Namen ihrer Ältesten (und damit auch ihren eigenen Namen) auf der Ergebnisliste der Aufnahmeprüfungen „liest“, all das hätte Rainer Werner Fassbinder in seiner Anti-Chabrol-Phase sicher sehr gut gefallen.