Die Frage nach der Verfilmbarkeit des Holocaust kann nicht schlüssig beantwortet werden. Der französische Dokumentarist Claude Lanzmann hat eine Fiktionalisierung der Ereignisse stets als illegitim verworfen. Damit stehen er und sein Werk als Gegenentwurf unter anderem zu Steven Spielberg und dessen „Schindlers Liste“ (1993). Doch der Kampf um Deutungshoheiten ist müßig. Als Lanzmanns „Shoah“ 1985 nach 12 Jahren Arbeit uraufgeführt wurde, schuf er damit eine Wegmarke, an der sich seither alle anderen Beiträge zum Thema messen lassen müssen. Es ist schwer, etwas Vergleichbares von ähnlicher Wucht und Gültigkeit nachzureichen. So stellt sich heute weniger die Frage, ob es überhaupt eine angemessene filmische Beschäftigung mit dem Holocaust geben kann, sondern ob dergleichen nach „Shoah“ noch möglich ist.
Ein spezieller Fall liegt dadurch vor, dass Claude Lanzmann sich weiterhin als Filmemacher betätigt. 2013 präsentierte er mit „Der Letzte der Ungerechten“ ein Porträt von Benjamin Murmelstein (1905-1989), dem letzten Vorsitzenden des „Judenrates“ in Theresienstadt, das aus Gesprächen, die 1975 aufgenommen wurden, und einem aktuellen Besuch Lanzmanns im einstigen „Vorzeige-KZ“ besteht. Murmelstein gehörte nicht zu den in „Shoah“ vor der Kamera stehenden Augenzeugen; die Begegnung mit ihm war Teil der Hintergrundrecherchen zum Film. Nun kommt ein vierteiliges Gruppenporträt zur Premiere, das unmittelbar auf dem Material basiert, das bei den Dreharbeiten von „Shoah“ entstand, damals aber keinen Eingang in den fertigen Film gefunden hat. Jetzt wurden die Aufnahmen neu gesichtet und montiert, um unter dem Titel „Vier Schwestern“ („Les quatre sœurs“) bei arte uraufgeführt werden.
Natürlich sind Ruth Elias, Ada Lichtman, Paula Biren und Hanna Marton keine wirklichen Schwestern. Ihre Verwandtschaft beruht auf der gemeinsamen Erfahrung des Überlebens in einem System, dessen Logik kein Überleben kannte. Lanzmann formulierte einmal, dass seine Filme nicht von den Überlebenden handeln, sondern von den Toten. Denn diese haben keine Stimme; sie wussten in den meisten Fällen nicht, was ihnen geschah; sie wussten nicht einmal, wo sie sich befanden, als sie in den Todesfabriken von Sobibor, Treblinka oder Majdanek ankamen. Die vor der Kamera Sprechenden verkörpern eigentlich „Betriebsunfälle“ des deutschen Lagersystems. Es dürfte sie gar nicht geben. Durch die Filme wird eine Brücke geschlagen zwischen den Ermordeten, den zufällig Geretteten und uns, den nachgeborenen Zuschauern.
Wie wichtig diese Arbeit ist, muss nicht betont werden. Sie hört nicht auf, auch wenn oder gerade weil kaum mehr Bürgen dieses Geschehens unter uns weilen. Als sich Claude Lanzmann 1973 entschloss, die Arbeit an „Shoah“ aufzunehmen, stellte er nicht zuletzt für sein eigenes Leben die Weichen. Er nahm eine ungeheure Last auf sich.
„Vier Schwestern“ ist mit Blick auf seine filmische Methode sehr aufschlussreich. Empathie und präzise, an Fakten orientierte Fragestellung untrennbar verwebend, stellt dieser Dialog eine einzigartige Gratwanderung dar. Die Frauen werden von Lanzmann in ihren privaten Umgebungen in den USA und Israel aufgesucht. Der Filmemacher selbst wird immer wieder ins Bild gebracht, auf dem Sofa sitzend, oft an Zigaretten ziehend. Obwohl äußerlich stets von Selbstkontrolle getragen, ist doch spürbar, wie es in ihm arbeitet. In wichtigen Augenblicken des Erinnerns greift er ein, insistiert, hakt nach, bittet um Wiederholungen und Präzisierungen. Dadurch verhindert er ein Abschweifen der Erzählungen. Sein Film arbeitet unentwegt auf mehreren Ebenen. Er ist gleichzeitig eine zutiefst zwischenmenschliche Angelegenheit sowie wissenschaftliche Quellensicherung. Trotz des äußerst begrenzten szenischen Rahmens und der damit verbundenen, scheinbar kargen Visualität – es gibt ja keine Archivaufnahmen oder Zwischentexte, ganz zu schweigen von Expertenstimmen oder gar Begleitmusik – gelingt es Lanzmann, die Räume zu öffnen. Gerade weil eben nichts illustriert wird, entfalten die Berichte aus der Hölle eine immense Wucht. Details der Inneneinrichtung oder des Gebarens fallen umso stärker ins Gewicht. Ruth Elias in „Der hippokratische Eid“ etwa, die Theresienstadt und Auschwitz überlebte, singt zum Akkordeon tschechische Lieder, krault dann beim Erzählen ihrem Hund den Nacken; es ist ein Deutscher Schäferhund. Oder Ada Lichtman in „Zum lustigen Floh“: Sie werkelt während des gesamten Interviews an vor ihr auf dem Tisch liegenden Puppen herum und berichtet später, fast nebenbei, dass sie im Vernichtungslager Sobibor in der Kleiderkammer arbeitete. Sie reparierte und reinigte dort Puppen, die von den SS-Wachmannschaften toten jüdischen Kindern weggenommen worden waren. Wenn es auf Heimaturlaub ging, brachten die deutschen Soldaten dieses Spielzeug dann ihren eigenen Kindern als Geschenke mit.