Wenn Frankie im abgedunkelten Kellerraum seines Brooklyner Elternhauses in den schwulen Chatroom eintaucht, verschwimmt die Grenze zwischen diesseits und jenseits des Screens. Ein intimer Raum tut sich auf, der den Rest der Welt buchstäblich verschwinden lässt. Es ist eine Sphäre, in dem es um Begehren und potentielle Begegnungen geht, ums Zeigen des Körpers und ums Gucken – und darum, wie „er“ so aussieht. Frankie muss ein wenig geschubst werden, als er das erste Mal den Wunsch ausspricht: „Zeig mir deinen Schwanz.“
Im Verbund mit seinen machohaften Kumpels spielt der durchtrainierte Teenager mit dem blassen Gesicht allerdings eine andere Rolle. Die Jungs hängen an den Stränden und im Vergnügungspark Coney Islands herum, schauen auf Mädchenhintern und prahlen damit, wer im Sommer die meisten „Ficks“ gehabt habe. Sie trinken, kiffen, fahren Autoscooter und begehen kleinere Taschendiebstähle, um damit ihr Budget für Drogen aufzubessern.
Die New Yorker Regisseurin Eliza Hittman situiert ihre Hauptfigur ganz bewusst in einem hyper-maskulinen, eher bildungsfernen Umfeld. Das für sexuelle Vielfalt und Liberalismus stehende Manhattan liegt zwar nicht weit, doch die Welt der „Beach Rats“ bleibt davon gänzlich unberührt. Bezeichnenderweise verlässt der Film das Viertel kein einziges Mal. Als Frankies Flirt Simone einmal fast bereit ist, mit ihm „in die Stadt“ zu fahren, winkt er ab: „Hier gibt es doch alles.“
„Beach Rats“ erzählt von einer Selbstverleugnung wider besseres Wissen. Frankie kennt sein Begehren, er klammert sich aber an den Aufschub, dabei scheint sich der Weg zum „Coming Out“ gleich mehrfach anzubahnen. Nach einem ersten Herantasten wagt sich Frankie bald in die Cruising-Bereiche am Ufer vor, um seine Chatbekanntschaften zum Sex zu treffen. Die Inszenierung verleiht diesen Szenen eine flirrende Stimmung zwischen Begehren, Aufregung, Schüchternheit und ein wenig Furcht. Die körnigen, von der Kamerafrau Hélène Louvart aufgenommenen 16mm-Bilder lösen den Raum in einer tiefschwarzen Fläche auf, aus denen sich die nur partiell beleuchteten Gesichter und Körper der Männer skulptural herausmodulieren. Diese auch visuellen Suchbewegungen sind symptomatisch für den Film. Immer wieder versucht sich Frankie auch in seiner heterosexuellen Scheinwelt zum „Out“ zu tasten. So fragt er Simone, mit der er nach einiger Selbstüberwindung ein ganz „normales“ Paar zu spielen versucht, mit den üblichen Ritualen des Ausführens, des Frühstücks nach der gemeinsam verbrachten Nacht, der Vorstellung der neuen „Freundin“ bei der eigenen Mutter, wie nebenbei, ob sie schon mal etwas mit einem Mädchen hatte. Als sie die Frage bejaht, will er wissen, was sie über Männer denkt, die miteinander herummachen. Ihre Antwort, „Das ist nicht hot, das ist einfach schwul“, lässt ihn erneut einen Rückzieher machen. Dieses unschlüssige Lavieren zwischen halbherzigem Selbstbekenntnis und Lüge gipfelt gegenüber seinen Kumpels in dem schrägen Bekenntnis, er treibe sich in schwulen Chatrooms herum, um an gutes Gras zu kommen. Die Beweisführung seiner „Story“ gerät dabei zum Drama.
„Beach Rats“ ist bei aller Konzentration auf die Zerrissenheit des Protagonisten weit mehr als die Geschichte eines boykottierten homosexuellen Erwachens. Mit atmosphärischem Gespür skizziert der Film das gesellschaftliche Milieu auf Coney Island, die billigen Vergnügungen, das Herumsitzen und Umherziehen, das stumpfe Zeittotschlagen. Auch Frankies Elternhaus wird trotz entschiedener Ellipsen überzeugend ausgestaltet. Der schwer krebskranke Vater stirbt zwischendrin, aber nicht nebenbei; auch die Trauer der Mutter und die Freude der kleinen Schwester über ihr neues Bauch-Piercing bekommen im Film ihren Platz.
Toll ist auch, wie sich die Kamera ganz zweckfrei scheinbar nebensächlichen Beobachtungen widmet: etwa einer Laufmasche in einer Strumpfhose oder den wunderschönen Rauchkringeln der Joints. Vor allem aber ist „Beach Rats“ ein Film, der sich mit Hingabe dem Licht in all seinen Facetten widmet; die Strandpromenade von Coney Island mit ihren bunt erleuchteten Buden und Fahrgeschäften ist dabei eine unerschöpfliche Quelle. Am Ende deutet sich in den schillernden Explosionen eines Feuerwerks (nicht zufällig heißt Kenneth Angers erster Film über einen homoerotischen Traum „Fireworks“) für Frankie etwas Neues, Hoffnungsvolles und Aufrichtiges an: eine Begrüßung, möglicherweise.