Auf dem Weg zu den Eltern stirbt ein Tier. Das Reh knallte frontal gegen das Auto von Chris und Rose. Der verstörte Chris droht in den Augen des verendenden Wildes zu versinken. Damit ist die Komfortzone verlassen; der Weg nach draußen führt in gefährliches Terrain: Das wollen Genre-Filmemacher mit dieser Standardsituation ausdrücken, die längst zum Klischee der Unheildrohung verkommen ist.
In „Get out“ ist diese Komfortzone für den Afroamerikaner Chris sein urbanes Lebensumfeld, wo er mit seiner Kamera den Alltag der schwarzen Arbeiterschicht dokumentiert. In der Pampa dagegen wird er nach dem Unfall sofort nach seinem Ausweis gefragt, obwohl er gar nicht am Steuer saß.
Die US-amerikanische Kritik hat das Regiedebüt von Jordan Peele gefeiert, weil es das hinlänglich bekannte Repertoire des Horrorfilms mit dem nicht minder bekannten Repertoire diskriminatorischer Alltagserfahrung verquicke und dem Genre neues Leben einhauche, während gleichzeitig der Rassismus zur Kenntlichkeit entstellt werde.
Der Preis, den der Film dafür bezahlt, besteht aber in der Dechiffrierungsleistung, die ein Publikum jenseits der USA für manche Subtilität aufbringen muss. Eine Plansequenz etwa, die erste Einstellung des Films überhaupt, zeigt einen namenlosen „Brother“, der sich in einer unbekannten Vorstadt verirrt zu haben scheint und mit ausgesprochen mulmigem Gefühl einen Wagen wahrnimmt, der neben ihm zum Halten kommt. Diese clevere Umkehrung des tief verwurzelten rassistischen Reflexes, der manchen Weißen in innerstädtischen Milieus unwillentlich packen mag, gelingt beinahe ausschließlich durch die räumlich-visuelle Konstruktion der Szene.
Kaum zu erwarten ist allerdings, dass die deutsche Synchronisation die Soziolekte erhalten kann, all die umgangssprachlichen Wendungen und Verkürzungen, die Chris am Telefon mit seinem Kumpel Rod benützt, der als Hundesitter übers Wochenende die Stellung in der Wohnung seines Freundes hält.
Doch bald wird die moppelige Quasselstrippe Rod, in der sich ein „Comic relief“ der Erzählung manifestiert, zum letzten Halt in der Realität: Mit den Eltern von Rose, denen Chris seinen Antrittsbesuch abstattet, scheint etwas nicht zu stimmen. An Freundlichkeit mangelt es nicht, auch nicht an offen zur Schau getragener (Links-)Liberalität. Doch Roses Mutter, eine Therapeutin, will Chris unbedingt hypnotisieren, um ihn vom Laster des Rauchens zu befreien. Auf einem Gartenfest wird Chris von den Gästen mit vergiftetem Lob voller Stereotype überschüttet: Ein Ex-Golfer erklärt seine Bewunderung für Tiger Woods, eine Dame erkundigt sich bei Rose nach den primären Geschlechtsmerkmalen ihres Freundes. Und dann sind da noch die afroamerikanischen Hausangestellten, die sich so furchtbar servil verhalten und im ganzen Habitus, nicht zuletzt in ihrer Sprechweise, so puppenhaft erscheinen, so merkwürdig – weiß?
All dies freilich zeigt sich noch zurückhaltend, reserviert inszeniert, nicht grell genug, um Satire zu sein, dafür aber mit offensichtlichem Kalkül konzipiert. Auch gutgemeinter Rassismus ist Rassismus, will der Regisseur andeuten, doch unter diesem Zeigedrang, unter dieser Thesenhaftigkeit leidet ein großer Teil der Erzählung.
Dann aber geht es los, spektakulär, ohne Rücksicht auf Figurenpsychologie und Plausibilität, in einer hysterischen Eskalation. Der britische Darsteller Daniel Kaluuya, der das großbürgerliche Treiben bis dahin mit geneigtem Kopf und gelegentlichem Schmunzeln ertragen hat, darf nun Gesichtszüge und Gelenke endlich entgleisen lassen. Es sind nur wenige Minuten, in denen sich andeutet, dass zwischen all den seriösen Stoffen des neuen afroamerikanischen Kinos, zwischen den Latten der „Fences“
(fd 44 495), dem Pathos von „The Birth of a Nation“
(fd 44 639) und den Milieustudien wie „Moonlight“
(fd 44 519) auch wieder Raum für die „Blaxploitation“ sein könnte. „Get Out“ allerdings verlässt sich noch weitgehend darauf, eine mal komische, mal schaurige Sozialkunde-Nachhilfestunde zu erteilen.