... und das Leben geht weiter (1993)

Drama | USA 1993 | 141 Minuten

Regie: Roger Spottiswoode

Die Geschichte der Immunschwäche AIDS bis zum Jahr 1987. Eine über weite Strecken fesselnde Zwischenbilanz, die in ihren Handlungssträngen sowohl medizinische als auch politische und soziale Aspekte der Problematik aufgreift und dabei ebenso mit Fakten und Dokumentarmaterialien informiert wie mit Einzelschicksalen erschüttert. Nur die mitunter klischeehafte Zeichnung einiger Figuren mindert den Wert des mit vielen prominenten Gastauftritten "veredelten" dokumentarischen Spielfilms. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
AND THE BAND PLAYED ON
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
HBO Downtown/Aaron Spelling Prod.
Regie
Roger Spottiswoode
Buch
Arnold Schulman
Kamera
Paul Elliott
Musik
Carter Burwell
Schnitt
Lois Freeman-Fox
Darsteller
Matthew Modine (Dr. Don Francis) · Alan Alda (Dr. Robert Gallo) · Patrick Bauchau (Dr. Luc Montagnier) · Nathalie Baye (Dr. Françoise Barre) · Ian McKellen (Bill Kraus)
Länge
141 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Wenn Roger Spottiswoode mit seinen Filmen Geld einspielen muß, dann liefert er meist nach Maß geschnittene Unterhaltung ab, Filme wie "Stop! Oder meine Mami schießt" (fd 29 612) oder "Mörderischer Vorsprung" (fd 26 897). Manchmal kann er auch anders; unterhaltsam ist er dann immer noch, aber er bringt zugleich Zeitgeschichte in einer Form nahe, wie sie in Hollywood nicht eben üblich ist. "Under Fire" (fd 24 287) war eine Parteinahme für die sandinistische Revolution in Nicaragua und zugleich eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem Ethos des Kriegsreporters. "... und das Leben geht weiter" zieht eine Zwischenbilanz der AIDS-Geschichte. Spottiswoode konzentriert sich dabei nicht etwa auf einzelne Krankenschicksale oder auf die hilflosen Bemühungen der Medizin oder die Verdrängungsarbeit der (amerikanischen) Politiker - er will in den 141 Minuten seines Films alles zugleich unterbringen. und noch mehr. Er will das Unmögliche - und er macht es auf ziemlich überzeugende Weise möglich.

Am Anfang war die Ratlosigkeit. In Europa sterben Patienten an eigentlich harmlosen Krankheiten, zur gleichen Zeit, 1976/77. wird Don Francis, ein amerikanischer Virologe, im Sudan mit einer mysteriösen Blutkrankheit konfrontiert. Die Bilder springen von Schauplatz zu Schauplatz, der Inszenierung scheint die ordnende Hand zu fehlen. Erst allmählich zeigt sich das - immerhin gewöhnungsbedürftige - System in Spottiswoodes Inszenierung. Er spielt mit Elementen des Thrillers und des Dramas, er bettet in die Spielhandlung zugleich Dokumentarmaterialien und eine Vielzahl von Informationen ein; er fächert die vielgestaltige Problematik episodisch und ordnet sie einzelnen Figuren zu. Die Amtsärztin Dritz und der homosexuelle Politiker Kraus, am Ende selbst ein Opfer, sehen sich mit der zunehmenden Verunsicherung und Panik der großen Homosexuellenszene von San Francisco konfrontiert. Eine Gruppe von französischen Medizinern macht sich daran, den HIV-Virus zu isolieren und gerät darüber in einen langen, fruchtlosen Streit mit dem publicitysüchtigen amerikanischen Kollegen Gallo. Die Mitarbeiter des "Center of Disease Control" tragen in mühevoller, geradezu detektivischer Kleinarbeit Fakten zusammen; ihr Alltag ist ein einziger Kraftakt, in dem sich Idealismus und Engagement immer wieder an Vorurteilen, bürokratischem Kleinmut und politischer Borniertheit brechen. Die Pole des ständigen Konflikts sind Curran, der Leiter, der immerfort um Forschungsgelder betteln muß und bei der Reagan-Administration schlecht mit einer "Schwulenkrankheit" hausieren gehen kann, und Francis, der Virologe, der immer noch von den Bildern aus Afrika heimgesucht wird und inzwischen sein ganzes Leben dem Kampf gegen die Immunschwäche gewidmet zu haben scheint. Dazwischen schlaglichtartig Einzelschicksale und weiter Dokumentarisches: Politiker, die mit ihren Reden mehr verdunkeln als erhellen, Demonstrationen des Protests, der wachsenden Betroffenheit und Bewußtwerdung.

Ratlosigkeit auch am Ende. Der Virus ist isoliert, dennoch steigen die Krankheits- und Todesfälle weiter in einer alarmierenden Kurve, die Öffentlichkeit ist einigermaßen informiert, einige Vorurteile und Irrglauben sind ausgeräumt, andere halten vor. Womöglich ist diese Ratlosigkeit, die Tatsache, daß die Geschichte keinen Abschluß hat, sondern in Gegenwart und Zukunft reicht, die Ursache für das systematische Schlingern des Films, der Fakten und Fiktion gleichrangig behandelt, der vom Melodram zum medizinischen Thriller wechselt und dann wieder zum Sozialdrama, der ebenso mitteilt, wie er mitleiden läßt, in einem Augenblick mit Inserts auf Distanz geht, im nächsten wieder die ganz individuelle Verzweiflung in der Großaufnahme eines Gesichts einfängt. Eine recht irritierende Marschroute, aber eine, die durchaus fesselt, ohne die Opfer zu Ausstellungsstücken und den Zuschauer zum Voeyur zu machen.

Die Cameo-Auftritte einzelner Stars - Phil Collins als unbelehrbarer Besitzer eines Homosexuellen-Saunaclubs, Richard Gere als infizierter Choreograph - fallen weder positiv noch negativ ins Gewicht, sie sind verzeihliches Verkaufskalkül. Ansonsten überzeugen in dem großen Ensemble vor allem Lily Tomlin als energische Vertreterin des Gesundheitsamtes und Saul Rubinek als Institutsleiter zwischen allen Stühlen. Dagegen erscheinen die beiden Figuren, die schließlich zu Antagonisten werden, etwas eindimensional und klischiert - Matthew Modine als junger Mediziner, der ganz im idealistischen Kampf gegen die Krankheit aufgeht, und auf der anderen Seite Gallo, der berühmte Kollege, der den Virus erst ernstnimmt, als er ihn für seinen persönlichen Ruhm nutzen zu können glaubt. Diesem überentwickelten Konflikt opfert der Film ein wenig von seiner Glaubwürdigkeit.

Im übrigen aber hält Spottiswoode sein mehrspuriges Konzept bis zur letzten Sekunde durch. Nachdem die vielen Handlungsträger mit kurzen Biografien in die Anonymität verabschiedet worden sind, prognostizieren ein paar Inserts die weitere Entwicklung der Krankheit. Den kalten Zahlen folgt dann der spürbare Druck auf die Tränendrüsen: zu einem AIDS-Song von Elton John erscheint eine schier endlose Bilderfolge von prominenten und weniger prominenten Opfern. Solange der medizinische Durchbruch ausbleibt, sind das wohl weiterhin die Eckpfeiler im Kampf gegen AIDS: informieren, aber auch emotionales Aufrütteln.
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