Ein Jahr ist es her, dass zwei maskierte Männer in die Redaktionsräume des französischen Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ eindrangen und elf der anwesenden Personen töteten. Sie schrieen dabei Parolen wie „Allahu Akbar“ und „On a vengé le prophète“ („Wir haben den Propheten gerächt“) und wollten ihre Tat als Rache für die von der Zeitschrift veröffentlichten Mohammed-Karikaturen verstanden wissen. Später übernahm Al-Qaida die Verantwortung für den Anschlag der beiden in Frankreich aufgewachsenen Brüder mit algerischen Wurzeln. Ein tags darauf, am 8. Januar 2015, von einem anderen Täter verübter Anschlag auf einen koscheren Supermarkt in Paris soll damit in Zusammenhang stehen.
Vor den schrecklichen Pariser Terroranschlägen am 13. November 2015 war der Überfall auf „Charlie Hebdo“ das heftigste Attentat und mehr als bloß die brutale Tötung einiger in Frankreich bekannter und beliebter Zeichner, Texter und Redakteure. Es war ein Angriff auf die französische Seele, auf Frankreichs Gesellschaft, die Grundwerte der Demokratie, insbesondere auf die Freiheit: die Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit. Eine Welle der Betroffenheit, Trauer, Solidarität und Empörung schwappte daraufhin von Paris aus um die Welt. Führende Politiker verurteilten den Anschlag, US-Präsident Barack Obama versprach, im Kampf gegen den Terrorismus mit Frankreich Schulter an Schulter zu stehen, aber auch in der muslimischen Welt wurde der Anschlag kritisiert. Unmittelbar nach dem Anschlag begannen die Menschen in Paris und vielen anderen Städten auf die Straße zu gehen. „Je suis Charlie“ stand auf ihren Plakaten, ein Ausspruch des Journalisten Joachim Roncin, den „Charlie Hebdo“ auf seiner Homepage gepostet hatte. Am Sonntag, 11. Januar, dem Tag der offiziellen Gedenkkundgebung, zogen etwa 1,5 Millionen Menschen durch die Straßen von Paris; mehr waren es seit Verkündung des Kriegsendes 1945 nie gewesen.
Unter ihnen befanden sich auch die Filmemacher Daniel Leconte und Emmanuel Leconte, Vater und Sohn. Daniel Leconte hatte 2008 „C’est dur d’être aimé par des cons“ gedreht, einen Dokumentarfilm über die zwölf in einer dänischen Zeitung veröffentlichten Mohammed-Karikaturen, die 2005 für Furore sorgten. Er hatte damals auch einige der bei „Charlie Hebdo“ beschäftigten Karikaturisten interviewt, ohne dass das Material bislang veröffentlicht worden war. Sozusagen mitten in den brennenden Ereignissen stehend, beschlossen die beiden, „Je suis Charlie“ zu drehen, eine über weite Strecken aus unmittelbarer Betroffenheit resultierende Chronik der Ereignisse, in deren Zentrum die Aufnahmen der Kundgebung vom 11. Januar stehen. Ergänzt werden diese durch Interviews, welche in den wenigen Tagen bis zum Erscheinen der ersten „Charlie Hebdo“-Ausgabe nach dem Anschlag mit den noch lebenden Redaktionsmitgliedern entstanden, etwa den Zeichnern Luz (Rénald Luzier) und Riss (Laurent Sourisseau), die seit dem 19. Januar 2015 zusammen mit dem Chefredakteur Gérard Biard für die Leitung des Magazins verantwortlich sind. Überaus berührend ist das Gespräch mit der Cartoonistin Coco (Corinne Rey), die den Tätern im Treppenhaus begegnete und von ihnen gezwungen wurde, die Tür zur Redaktion zu öffnen.
Die beide Filmemacher haben es bei dieser Chronik, die ihren Höhepunkt im Erscheinen des nächsten Heftes – No. 1178, Titelbild: eine Karikatur von Luz, Sujet: Mohammed mit „Je suis Charlie“-Banner, Überschrift: „Tout est pardonné“, Auflage 7.95 Millionen – nicht belassen. Ansatzweise geht es auch um die Diskussion über Aufgabe und Funktion von Satire, Karikatur und Humor, was auch schon in den früheren Interviews mit den beim Anschlag umgekommenen Zeichnern Charb (Stéphane Charbonnier), Cabu (Jean Cabut) und Tignous (Bernard Verlhac) eine Rolle spielte, aber auch im Gespräch mit der Philosophin Elisabeth Badinter und dem ehemaligen „Charlie Hebdo“-Chefredakteur Philippe Val.
Sie wollen viel, die beiden Lecontes, mit ihrem Film „Je suis Charlie“, der über weite Strecken aus Interviews und Gesprächen besteht. Der darin geführte Diskurs ist über weite Strecken hoch intellektuell, das im Bild Gezeigte, etwa die Bilder des Attentats, bisweilen heftig und unmittelbar erschütternd. „Je suis Charlie“ lässt sich deshalb nicht einfach rezipieren; wenn der Film am Ende mit Ausschnitten aus alten Home-Movies zum Nachruf auf die Verstorbenen ansetzt, wird er sehr emotional. Doch „Je suis Charlie“ ist ein wichtiger Film. Weil die Diskussion über die Rede-, Presse-, Meinungsfreiheit nie aufhören darf.