„Pentamerone“, „fünf Tage“ heißt die Märchensammlung, die der neapolitanische Dichter Giambattista Basile (1575-1632) im 17. Jahrhundert verfasste und die posthum zwischen 1634 und 1636 erschien, also lange vor den Gebrüdern Grimm, die davon stark beeinflusst sein dürften. „Fünf Tage“ deswegen, weil in dieser Zeit zehn Frauen fünfzig Märchen erzählen. Drei davon hat der italienische Regisseur Matteo Garrone fürs Kino adaptiert. Das ist zunächst eine Überraschung, weil Garrone mit „Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra“
(fd 38 892) und zuletzt „Reality“ (über den Wahn eines neapolitanischen Fischhändlers, unbedingt an einer TV-Show teilzunehmen) wirklichkeitsnahe Themen in den Blick genommen hatte. Jetzt aber scheint ihn eine andere Welt zu interessieren. Doch weil er die so selbstverständlich auf die Leinwand bringt und dabei aufmerksam dem Treiben der Figuren folgt, fügt sich „Das Märchen der Märchen“ nahtlos in seine Filmografie.
Die erste Geschichte beginnt mit der schönen Königin von Longtrellis (dargestellt von Salma Hayek), die sich sehnlichst einen Sohn wünscht. Dafür aber muss der König, so verheißt es ein hagerer Magier, ein weißes Flussungeheuer töten und ihm das Herz entreißen, das dann von einer Jungfrau gekocht und von der Königin gegessen werden soll. Der Coup gelingt – auch wenn der König beim Kampf mit dem Ungeheuer sein Leben lässt und nicht nur die Königin, sondern auch die jungfräuliche Magd einen weißhaarigen Jungen zur Welt bringt.
Der König von Highhills hingegen interessiert sich nur für seine Insektensammlung und hat mittlerweile einen riesengroßen Floh herangezogen. Als seine Tochter heiraten will, soll der künftige Bräutigam durch die richtige Beantwortung einer Frage (die sich natürlich auf den Floh bezieht) ermittelt werden. Doch nur ein hässliches Monster, das in einer unzugänglichen Steilwand lebt, weiß die Lösung. Und dann ist da noch der König von Strongcliff, ein wahrer Schürzenjäger, der sich in eine betörende Stimme verliebt. Er ahnt nicht, dass sie der alten Dora gehört. Der König lässt nicht locker, bis sich Dora ihm im Dunkeln hingibt. Als er bei Tageslicht seinen Irrtum bemerkt, wirft er die Greisin kurzerhand aus dem Burgfenster – mit unerwarteten Folgen.
Drei alternierend erzählte, durch das Personal und einige Begebenheiten lose verknüpfte Geschichten, die die Grenzen des Märchens mehrmals sprengen, so bizarr, zuweilen grotesk sind sie erzählt. Kameramann Peter Suschitzky findet dabei immer wieder überraschende, bisweilen auch überwältigende Bilder. John C. Reilly gleicht bei der Jagd nach dem Ungeheuer in einem milchig-weißen Fluss einem Tiefseetaucher aus einem Jules-Verne-Roman: beim stetig wachsenden Floh denkt man an Kafkas „Verwandlung“, die beiden identischen Albino-Söhne könnten aus Wolf Rillas „Das Dorf der Verdammten“ (fd 9971) geflohen sein. Gelegentlich kommt Pasolinis „Decameron“
(fd 17 547) in den Sinn, der in seinen acht Geschichten auch die sinnliche Lebenslust feiert.
Mit ein wenig gutem Willen lassen sich die Märchen auf ihre Bedeutung hin abklopfen, auch für die heutige Zeit; es geht um Eitelkeit, Eifersucht, Besessenheit, Jugendwahn und Angst vor dem Alter. Und wo Tiere zu Menschen werden und Alte zu Jungen, ist auf nichts mehr Verlass. Doch Garrone besteht nicht auf diesen Interpretationsangeboten. Er verzahnt seine wild-fantastischen Bildideen mit großem Geschick und drängt dem Zuschauer keine Moral auf. Stattdessen bettet er die Geschichten in eine karge süditalienische Landschaft ein, in der nur die drei imposanten Schlösser und ein vage angedeutetes Dorf von der Existenz des Menschen zeugen. Eine Szenerie, die seltsam aus der Welt gefallen scheint, weshalb hier auch das Unmögliche passieren kann.