Meine Schwestern

Romain Antony | 04.08.2024

Ein Krankenhausbett, belegt mit einer durch ein Leintuch zugedeckten Person, aus der zwei Fußsohlen herauslugen, wird durch Krankenhausflure geschoben, um einige Ecken, an anderen Betten und entgegenkommenden Menschen vorbei und im Keller auf einer Nirostatragbahre zwischen andere Toten in ein Regal hineingeschoben: Linda ist tot. Sie wurde 30 Jahre alt. Aus dem Off kommentiert sie ihren Tod, erzählt von ihrem angeborenen Herzfehler und davon, dass sie geahnt hat, eine anstehende Operation nicht überleben zu können. In Rückblenden sehen wir Zuschauende, wie sie ihre jüngste Schwester Clara (Lisa Hagmeister) abholt und diese davon überzeugt, an die Nordsee, nach Tating zu fahren. Ihre dritte Schwester Katharina (Nina Kunzendorf), die ältere, überreden sie mitzukommen. In Tating, dem Urlaubsort ihrer Kindheit und Jugend treffen sie Bekannte, Freunde, machen Party erinnern sich an den Veranstaltungs- und Speisesaal der Familienpension, in der sie sich eingemietet haben, trinken viel, lachen laut, umarmen sich, gehen ans Meer, spazieren am Strand. Linda (Jördis Triebel) wird ohnmächtig, die beiden Schwestern machen sich Sorgen. Geschwisterliche Spannungen werden sichtbar. Die ältere Schwester gesteht, dass sie unter der Verantwortung, auf die mittlere erkrankte Linda aufzupassen, gelitten hat, viel unter Anspannung gestanden hat und ihr die aufgebürdete Verpflichtung eine Last gewesen ist. Die jüngere, Nesthäkchen Clara, die nach schwierigen Studienjahren in Hamburg über einen erneuten Studien- und Ortswechsel nachdenkt, fühlte sich als Außenseiterin in dem Geschwisterdreieck, einsam und ausgeschlossen aus der Nähe zwischen den beiden anderen. Linda erzählt, sie wisse dass ihr Mann ein Verhältnis mit einer Frau aus ihrem Chor hat, bittet ihre Schwestern das für sich zu behalten. Die Schwester fahren, den Widerstand von Katharina überwindend nach Paris, ein Wunsch von Clara, die glaubt dort ihre Bestimmung im Kunststudium zu finden. In Paris lebt die Tante der Schwestern (Angela Winkler) mit ihrem Mann Daniel (Ernst Stötzner). Die beiden haben bei Ankunft der Schwestern gerade Gäste. Smalltalk, Drinks, Paprika schnibbeln in der Küche mit Gespräch, essen. Daniel und Linda unterhalten sich auf dem Balkon über die Herzerkrankung, die OP, Lindas Todesahnungen, entscheiden sich dann aber für ein Gespräch über das Wetter. Linda küsst und umarmt Daniel. Sie verlässt unbemerkt die Party, lernt eine burschikose Französin kennen und streift mit ihr durch Paris bis zum Sacré Coeur hinauf. Linda schafft nur mit Mühe und mit vielen Pausen diesen langen, steilen, treppenstufigen Aufstieg zur Kirche. Inzwischen wird sie vermisst, gesucht und in den Morgenstunden als ein Telefonat von ihr bei Clara eintrifft, eilen die beiden Schwestern mit Daniel hin und finden die herzkranke Linda ganz erschöpft in einer Bankreihe der Kirche des geheiligten Herzens. Daniel kümmert sich um Linda, berührt sanft ihre Hand. Auf der Rückfahrt nach Deutschland interessiert sich Katharina, nach etwas Zögern, für die Unterlagen der Kunstakademie in Paris. Clara und Katharina kommen sich näher, was ein Herzenswunsch von Linda gewesen ist, damit Clara eine starke Schwester an ihrer Seite hat, wenn sie, Linda, nicht mehr da ist. In einer der letzten Szenen des Films steht Linda, die wie sie mal sagte, Ärzteschaft, Krankenbetten und Kliniken hasst, distanziert vor dem Krankenhaus, blickt zweifelnd auf das Gebäude, wo ihre Operation stattfinden wird. Im Warteraum wartet ihr Mann Micha (Stephan Grossmann) mit einem Blumenstrauß auf sie. Als Katharina, die Linda zur Anmeldung begleitet hat, zurück in den Warteraum kommt, setzt sich Micha etwas abseits und die beiden Schwestern Katharina und Clara sitzen Kopf an Kopf gelehnt nebeneinander. In der Diskussion zu den "Schwestern" fanden wir es eindrucksvoll zu hören wie andere Zuschauende den Film erlebt hatten. Besonderen Interpretationsbedarf gab es bei der Einstellung von Linda zu ihrem Onkel Daniel, den sie auf dem Balkon liebevoll, fast leidenschaftlich geküsst hatte. Einige Zuschauende sahen darin eine frühere erotische Beziehung der beiden, fühlten sich durch das Händestreicheln im Sacré Coeur bestätigt in ihrer Sicht, andere sahen im Küssen eine explosionsartige Liebessehnsucht, die am Onkel Daniel ausgelebt worden ist, eine Art letztes erotisch sexuelles Aufbäumen. Das Streicheln der Finger in der Kirche wurde als menschliche Tröstungsgeste gesehen. Es wurde darauf hingewiesen, dass die vier Männerrollen des Films ein ausbalanciertes Gegengewicht zu den drei Schwestern bildeten. In Tating traf Katharina auf einen früheren Freund, mit dem sie sich auf der Dorfparty küsste, was Hinweise auf Jugenderfahrungen nahe legte, Erinnerungen bebilderte. Das Fremdgehen von Lindas Mann, Micha, erlaubt es dramaturgisch ihn an den Rand zu stellen und die Fürsorge für Linda den Schwestern zu überlassen. Fabian, Katharinas Mann (Marc Hosemann) wird als moderner Vater gezeigt, der seine Kinder in der Abwesenheit der Mutter versorgt und auch daran denkt ein Geschenk für eine Geburtstagseinladung zu besorgen. Die Skepsis von Katharina darüber, ob das wohl klappt, bebildert, wie stark ihre Verantwortungs- und Zuständigkeitsrolle ein Lebensthema ist, aus dem sie sich nach den Reiseerfahrungen mit ihren Schwestern anfängt herausarbeiten. Und schließlich Daniel, der als Projektionsfigur, als Vaterersatzfigur fungiert, auch wenn er leidenschaftlich geküsst worden ist und ansatzweise, soweit Linda es zulässt, sich um ihre Belange und Ängste kümmern will. Aber hat der Regisseur Kraume die Figur so angelegt? Dann hätte der Vorschlag, nicht über Krankheit und Tod, sondern übers Wetter zu reden, von Linda kommen müssen. Daniels Verhalten lässt sich als Vermeidung, Verdrängung belastender Gefühle lesen, mit denen er eine Trauerarbeit verhindert. Dafür steht auch seine drastische Bemerkung, dass er mit Lindas Ableben rechnet. Daniel bleibt im Filmerleben der Zuschauenden eine ambivalent zu deutende Figur. Ist es hilfreich über Todesangst zu sprechen? Ein Angebot zum Gespräch scheint unerlässlich, auch wenn manche Menschen darüber nicht reden wollen, sie ihre Gefühlswelt vor anderen verschließen, sie ihre Aufmerksamkeit auf schöne, erfreuliche Gedanken und Erfahrungen lenken. Es gibt vielfältige Formen sich aus dem Leben zu verabschieden. Lars Kraume zeichnet in sensibler, einfühlsamer Weise, unterstützt von hervorragenden Schauspielerinnen, eine davon. cf. auch den filmblog unter: www.filmekommentieren.wordpress.com --> klicken.lesen.folgen.