Dokumentarfilm | USA/Großbritannien/Frankreich 2012 | 87 Minuten

Regie: Lucien Castaing-Taylor

Multisensuelles Porträt eines industriellen Fischereiboots in den Gewässern von Neuengland. Benannt nach dem alttestamentarischen Seeungeheuer, ist "Leviathan" selbst eine Art filmisches Monster, heftig, grausam und schön. Die Perspektiven sind dabei so zahlreich wie die Kameras: Hier sehen nicht nur Menschen auf Tiere, Dinge und Natur - auch einem Fischereinetz, toten und lebenden Fischen oder dem Wasser wird eine subjektive Sicht zugewiesen. Eine innovative Form der Zusammenschau von Mensch, Tier, Natur und Objekt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LEVIATHAN
Produktionsland
USA/Großbritannien/Frankreich
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Arrête ton Cinéma
Regie
Lucien Castaing-Taylor · Verena Paravel
Buch
Lucien Castaing-Taylor · Verena Paravel
Kamera
Lucien Castaing-Taylor · Verena Paravel
Schnitt
Lucien Castaing-Taylor · Verena Paravel
Länge
87 Minuten
Kinostart
23.05.2013
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Schwindel. Chaos. Gekippte Perspektiven auf Eisenketten, Maschinen und Hydraulik, auf grellfarbene Gummikleidung, zuckende Fischkörper und den wild schäumenden Ozean. „Leviathan“, betitelt nach dem alttestamentarischen Seeungeheuer, das hier einem industriellen Fischereiboot seinen Namen leiht, ist kein Film, der sich im eigentlichen Sinn betrachten lässt. Auch Begriffe wie „Erzählung“ oder „Dokumentation“ wirken viel zu geordnet, distanziert und kraftlos, um dem immersiven, multi-sensuellen Erleben dieses kunstvollen Horrorfilms auf hoher See gerecht zu werden. Ein Jahr lang haben die Filmemacher und Anthropologen Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel das sich buchstäblich durch die Gewässer von Neuengland fressende Schiff filmend begleitet. Beide gehören dem „Sensory Ethnography Lab“ an, ein 2006 gegründetes überdisziplinäres Labor an der Harvard University, das die Grenzen des ethnographischen Films durch körperlich-sensuelle und ästhetische Erfahrungen auszuweiten sucht. „Leviathan“ ist auch nur bedingt ein Porträt der industriellen Fischerei. Schließlich bleiben von den Arbeitsverhältnissen auf See nur die Bilder physischer Verausgabung übrig, ein Heben und Wuchten und Manövrieren, sowie die brachiale Arbeit am Fischkörper: Messer stoßen ins Fleisch, ein massiger Oberarm mit Meerjungfrauen-Tatoo bewegt sich rhythmisch zum Knacken von Schalentieren, Blut rinnt an den Rändern eines Bottichs herunter – Szenen wie aus einem Slasher-Film, teilweise aus grotesken Nahsichten gefilmt. Oftmals lösen sich die Bilder aber auch in pure Abstraktion auf: Luftblasen, die sich zu Mustern formieren, der schwerelose Tanz der Seesterne – ein hypnotisches Zusammenspiel aus Licht, Strukturen und Farben, das sich nicht zuletzt den Bedingungen des digitalen Materials verdankt. „Leviathan“ wurde mit einem Dutzend kleiner, ansteckbarer Action-Kameras gedreht, die vor allem bei Extremsportlern Anwendung finden. Castaing-Taylor und Paravel haben sie an Helme, Arme und Beine der Fischer geheftet, an Netze und Leinen gebunden, in den toten oder sterbenden Fang hineingeworfen oder auch in den aufgewühlten Ozean getaucht. Diese multiplen, radikalen Point-of-View-Einstellungen, inmitten von Wasser, Tier, Mensch und Maschine – und begleitet von einem gewaltigen Soundmix aus kinetischem Lärm und Naturgeräuschen – bringen Bilder hervor, die ebenso monströs wie desorientierend sind. In einer Szene schwappt die Kamera inmitten toter Fische in einem Bottich hin und her: blasse Glubschaugen werden ins Bild geschwemmt, offen stehende Fischmäuler, Flossen. Mit derselben Haltung aus Unbeteiligtsein und Distanzverlust glotzt die Kamera später stur auf die Augenpartie eines Fischers: gerötete Haut, eine Landschaft aus zahllosen Falten – plötzlich ein seltsam fischiger Anblick. „Leviathan“ unterscheidet nicht zwischen Mensch, Tier und Maschine, Organischem und Industriellem, Totem und Lebendigem – konsequenterweise listet der Abspann die Namen von Fischern und Fauna (in ihren originalen lateinischen Bezeichnungen) gemeinsam auf. Doch das multiperspektivische Konzept der Filmemacher, das sich als eine Überwindung anthropozentristischer Positionen versteht, ist nicht frei von Ambivalenz. Denn die Gewalt, mit der Castaing-Taylor und Paravel das Sujet dem menschlichen Standpunkt entreißen und in eine Kollaboration mit Natur und Ding zwingen, fällt am Ende auch auf ihre künstlerische Handschrift zurück. Als entfesseltes Überwältigungskino aber ist „Leviathan“ so schön und heftig wie nur möglich.
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