Dokumentarfilm | Niederlande 2011 | 80 Minuten

Regie: Michiel van Erp

Atmosphärisch dichtes, bewegendes Porträt von fünf Frauen, die zur ersten Generation von Transsexuellen gehören. In Casablanca haben sie sich in den 1960er- und 1970er-Jahren einer Geschlechtsumwandlung unterzogen. Ihre Erzählungen kreisen um die mitunter schmerzhafte Vergangenheit als Junge und Mann, um den Segen der Identitätsfindung, aber auch um gesellschaftliche Ächtung, Einsamkeit und die Zumutungen des Alters. Vor allem aber erzählt der Dokumentarfilm aber vom Glück, ein Leben als Frau zu führen und damit im richtigen Körper zu Hause zu sein. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
I AM A WOMAN NOW
Produktionsland
Niederlande
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
De Familie/VPRO
Regie
Michiel van Erp
Buch
Michiel van Erp
Kamera
Mark van Aller
Musik
Louis Ter Burg
Schnitt
Hinne Brouwer
Länge
80 Minuten
Kinostart
18.04.2013
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Neue Visionen (16:9, 2.35:1, DD2.0 niederl./dt.)
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Diskussion
Eine schöne junge Frau mit blonden Haaren, glamourös, verliebt und im Flirt mit der Kamera: Die Super-8-Bilder von Corinne aus ihrem Sommerurlaub in Biarritz zu Beginn der 1960er Jahre haben etwas Euphorisches, dem Leben zugewandtes, trotzdem scheint so etwas wie Sehnsucht durch, Unerfülltes, vielleicht auch ein bisschen Vorfreude. „Das war vor Casablanca“, erzählt die mittlerweile über siebzig Jahre alte Frau bei der Betrachtung des Films. Casablanca, das ist im Leben von Corinne und dem vieler anderer Frauen nicht nur eine Zäsur; es ist ein Neubeginn, mehr noch: eine Geburt. Denn an diesem, von der europäischen Realität fernen Ort, führte in den 1960er und 1970er Jahren Dr. Georges Burou als erster Arzt überhaupt transidentitäre Operationen durch – ein Pionier, der seinen Patientinnen mit abschreckendem Bildmaterial und einer Art Schlachterschürze, aber auch großem Einfühlungsvermögen entgegentrat. Corinne, Bambi, April Ashley, Colette Berends und Jean Lessenich, fünf transsexuelle Frauen, die der Filmemacher Michiel Erp in seiner Dokumentation portraitiert, erfuhren dank des medizinischen Eingriffs von Burou – Corinne nennt ihn an einer Stelle sogar „Vater – zum ersten Mal was es bedeutet, im richtigen Körper zu Hause zu sein. Der andere, der männliche – inzwischen zeugen nur noch alte Fotos davon – , war für sie immer ein Fremdkörper gewesen, ein Ort der Verunsicherung und des Schmerzes. April Ashley, eine beeindruckende Frau mit lila schimmerndem Haar und dem distinguierten Habitus einer britischen Herzogin, erzählt etwa von traumatischen sexuellen Übergriffen auf einem Marineschiff und wie sie in der Psychiatrie mit männlichen Hormonen zwangsbehandelt wurde; die Ärzte wollten aus ihr zumindest einen anständigen Homosexuellen machen. Nach ihrer Operation arbeitete sie ebenso wie Bambi als Showgirl in dem berühmten Pariser Cabaret „Le Carrousel de Paris“; auch die Niederländerin Colette Berends war in Nachtclubs tätig. Der künstlerische, von exzentrischen Persönlichkeiten geprägte Zusammenhang, in dem Geschlechternormen nichts galten, war natürlich ein weitaus freierer Raum für das Ausleben einer Transgender-Identität als die bürgerliche Arbeitswelt im Deutschland der 1970er Jahre. Die im Rheinland geborene Jean Lessenich blickt auf eine von vielen Brüchen und inneren Kämpfen geprägte Geschichte als Frau zurück, die noch immer nicht abgeschlossen scheint. Als verheirateter Mann führte sie zunächst ein Doppelleben, schlüpfte heimlich auf Dienstreisen in Frauenkleider. Nach der Geschlechtsumwandlung folgten einige glückliche Jahre als Frau und schließlich, durch die langjährige Beziehung zu einer konservativ eingestellten Japanerin, erneut eine „halbe“ Umkehrung: sie lebte wieder als Mann – ein „Selbstmord“ nennt es Jean rückblickend. Inzwischen nimmt sie wieder weibliche Hormone, doch ein Rasierpinsel im Badezimmer und auch ihre tiefe Stimme verraten, dass sie erneut den mühevollen Weg vor sich hat, den sie schon einmal gegangen ist. „I am a Woman Now“ versammelt keine linearen Biographien mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, erzählt vielmehr fragmentarisch, aber dennoch präzise an zentralen Fragestellungen entlang. Ihren Ausgang nehmen sie von der Lebens verändernde Operation, dem Davor und dem Danach. Der Film zeigt die Frauen im Alltag, aber auch in Ausnahmesituationen – so kommt es etwa zu einem bewegenden Treffen zwischen April Ashley und dem Sohn des mittlerweile verstorbenen Dr. Burou. „I am a Woman Now“ hat trotz dieser dramaturgischen Zuspitzungen nichts Forciertes, jede der Figuren hat den Raum, den sie braucht; auf diese Weise ergibt sich ein atmosphärisch dichtes Portrait einer ersten Generation von Transsexuellen, die von keinem sozialen Kontext aufgefangen wurde – eine queere und Transgender-Bewegung war noch nicht in Sicht und für die sich langsam entwickelnde feministische Bewegung galten Frauen wie Jean mitunter sogar als Komplizinnen des Patriarchats. Im Gegensatz zu den meisten Dokumentationen zu dem Thema, die die lange und komplizierte Phase des Übergangs von einem Geschlecht ins andere in den Mittelpunkt stellen, ist „I am a Woman Now“ ein Blick in die Vergangenheit mit den Erfahrungen von heute. Casablanca liegt vierzig Jahre zurück, die Frauen haben die längste Zeit als Frauen gelebt, sie wissen also, von was sie sprechen, was für sie Glück und Trauer bedeutet. Unweigerlich ist „I am a Woman Now natürlich auch eine Erzählung über das Altern und die Vergänglichkeit. Keine der Frauen hat zum damaligen Zeitpunkt in die ferne Zukunft geblickt, auch Jean nicht. „Ich hätte mir damals einfach nicht vorstellen können, dass ich mal 'ne alte Frau bin. Das war in der Fantasie nicht drin“.
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