Plötzlich wird das Weiß der Kinderzimmerwände von Postern verschluckt. Im Briefkasten landet in regelmäßigen Abständen eine Zeitschrift, auf dem dasselbe Tier wie auf den Postern prangt. Was ist passiert? Mit großer Wahrscheinlichkeit grassiert in der Klasse der Tochter der Pferdewahn. Ab einem gewissen Alter setzt bei Mädchen ein Begeisterungssturm für die großäugigen Reittiere ein, der alle Puppen ins Hintertreffen geraten lässt. In der Pubertät ist es mit der Liebe für den Vierbeiner dann meist vorbei, weil männliche Zweibeiner in den Fokus geraten. In der Übergangsphase zwischen Puppe und Mann, Mädchen und Frau wird das Pferd zum lebendigen Kuscheltier. Entsprechend werden Pferdegeschichten denn auch von Teenagern bevölkert, die älter als ihre Leserinnen sind, somit als Vorbild fungieren und wilde Pferde bändigen dürfen, die sich dann nur von ihnen anfassen und reiten lassen. Das sind die Fantasien einer exklusiven Liebe zu einem Tier, das nicht nur Pflege braucht, sondern auch Gefühle von Geborgenheit und Freiheit zu geben hat.
Genau solch eine Geschichte erzählt Katja von Garnier mit einem expliziten Mädchenfilm über die 14-jährige Mika, die mit ihrer roten Haarmähne so ungebunden und aufsässig ist, wie der aufbäumende Hengst, den ihre Großmutter im Stall einsperrt. Mika, die ungebändigte Chaosbraut mit der Vorliebe für Fettnäpfchen, droht in der Schule durchzufallen, weshalb sie von ihren Eltern auf das Pferdegestüt der Oma zum Lernen geschickt wird. Die Wärme scheint sich auf „Frau Kaltenbachs“ Hof allerdings seit Jahren verflüchtigt zu haben. Die Besitzerin trägt ihren Namen mit demselben Fug und Recht wie der eingepferchte Hengst den seinen, der der ehemaligen Olympia-Reiterin einst das Bein zerschmetterte. „Ostwind“: Das sei ein Wind, der Wärme und Leben sowie Kälte und Verderben bringen kann, das bekommt Mika vom ehemaligen Profitrainer und Großvater des gleichaltrigen Stallburschen Sam erzählt. Aber Mika wird die „Pferdeflüsterin“ in sich entdecken und sich dem scheuen und missverstandenen Pferd annähern, um auf dessen Rücken fürs anstehende Turnier zu trainieren.
„Abgeschminkt!“
(fd 30 272) und „Bandits“
(fd 32 614) hießen die ersten beiden kraftvollen Frauenporträts, die Katja von Garnier in den 1990er-Jahren vor ihrem Ausflug ins amerikanische Filmschaffen inszenierte. „Ostwind“ ist der erste Film, den sie wieder in ihrer Heimat drehte. Als müsste sie sich erst wieder in der hessischen Hügellandschaft, durch die sie Mika auf Ostwind fliegen lässt, zurechtfinden, beginnt ihre Inszenierung dieser klassischen Freundschaftsgeschichte zwischen Pferd und Mädchen äußerst zurückhaltend. An Spannung und Eigenständigkeit darf der Jugendfilm mit der prominenten Erwachsenenbesetzung erst gewinnen, als das erste Pferd mit wehender Mähne und zitternden Nüstern in Zeitlupe durchs Bild galoppiert ist. Angefangen mit der in Mond- und später in Gegenlicht getauchten, ersten Begegnung der Underdogs Mika und Ostwind, die sich natürlich zu Gewinnern mausern werden, findet Kameramann Torsten Breuer mit der zunehmenden Dramatik auch zu mutigeren Bildern einer Pferdevernarrtheit, die kleine Mädchen begeistern werden. Dass in diesen Bildern keinem die Anschlussfehler auffielen, die urplötzlich Sporen an Turnschuhe und hunderte Kilometer voneinander entfernte Unfallopfer in gemeinsame Krankenhäuser legen, mag an dem galoppierenden Unheil liegen, dem Pferd, Reiterin und kleine Zuschauerin bald ausgesetzt sind. Über eifersüchtigen Sabotageakten auf dem Parcours, Aufstieg, Fall und einem schlimmen Unfall thront dabei „der Ungar“, ein grobschlächtiger Pferdemetzger, der dem vermeintlich unrentablen Gaul an den Kragen will. Die Geschichte zieht also alle Register, legt aber auch eine Tragik an den Tag, die nach der anfängliche Erfüllung lang gehegter Mädchenträume bis zum ungewöhnlich späten Happy End auf jüngere Kinder ebenso ungewöhnlich grausam wirken könnte. Katja von Garnier findet dabei in der Tradition ihrer vorherigen Filme zu ihrem durchaus spannenden und Musik-geladenen Erzählrhythmus zurück. Etwas älter dürften die Pendlerinnen zwischen Kino und Ponyhof diesmal allerdings sein.