Es ist einer dieser Tage, und am besten wäre Niko Fischer wohl gleich im Bett geblieben. Als erstes gibt ihm seine Freundin den Laufpass, dann schlägt der Versuch, Geld aus dem Bankautomaten zu ziehen, fehl: Das Konto ist gesperrt. Bislang hatte ihm sein Vater stets 1.000 Euro im Monat überwiesen. Doch Niko, Ende 20, hat sein Jura-Studium bereits vor zwei Jahren an den Nagel gehängt. Was er seitdem gemacht habe, fragt ihn sein Vater (von Ulrich Noethen in einer Mischung aus Arroganz, Gemeinheit und Enttäuschung gespielt) bei einem späteren Treffen. „Ich habe nachgedacht“, so Nikos Antwort. Niko ist ein Slacker, unentschlossen, entscheidungsschwach, nicht phlegmatisch, aber doch einen Tick zu teilnahmslos. Alles lässt er sich gefallen; sich zu wehren, aufzubegehren, das liegt ihm nicht. So streift er ziellos durch Berlin, auf der Suche nach einer normalen Tasse Kaffee. Was nicht so einfach ist angesichts der riesigen Auswahl und der exorbitanten Preise in einem dieser modernen Coffeeshops.
Fortan begegnet der junge Mann an verschiedenen Orten verschiedenen Menschen. Da ist der neugierige Nachbar, der ihm selbstgemachte Fleischklößchen aufdrängt, der hinterhältige Psychologe, der ihn beim Idioten-Test mit unangemessenen Fragen („Haben Sie Minderwertigkeitskomplexe, weil Sie so klein sind?“) traktiert und prompt durchfallen lässt; das sind die beiden pedantischen Fahrkarten-Kontrolleure, die für Nikos Erklärungsversuche weder Geduld noch Verständnis aufbringen.
Debütant Jan Ole Gerster wirft seinen Protagonisten einen Tag und eine Nacht lang in eine Abfolge episodenhafter Prüfungen, in denen er sich nur unzureichend bewährt; sein Film schaut mal hier-, mal dorthin, planlos, sprunghaft und mäandernd. Das gibt „Oh Boy“ eine ungewohnte Struktur, in der alles möglich scheint, in der alles erlaubt ist. Nicht nur, dass namhafte Schauspieler wie Justus von Dohnányi, Ulrich Noethen und Michael Gwisdek nach prägnanten Kurzauftritten aus dem Film verschwinden, als seien sie zurückgelassen und vergessen worden; auch die einzelnen Episoden unterscheiden sich in Ton und Humor, sind albern oder ironisch, leichtfüßig oder beklemmend, parodistisch oder surreal, mal visueller, perfekt getimter Sketch, mal pointenreicher Dialogwitz. Einmal landet Niko mit einem befreundeten Schauspieler auf einem Film-Set, wo ein aufgeblasener Möchtegern-Tarantino ein pompöses Nazi-Drama inszeniert. Ein anderes Mal begegnen sie einer alten Schulfreundin, die sich, früher gehänselt und ausgeschlossen, mit demonstrativ, aber auch hysterisch vorgetragenem Selbstbewusstsein nichts mehr gefallen lässt. Von der Parodie zur Tragödie ist es da nicht weit – souverän handhabt Gerster den Wechsel der Stimmungen und hat doch ein Werk aus einem Guss inszeniert. Mit dem steten Wechsel der Orte entsteht nicht nur ein schöner, von Bild-Klischees entschlackter Berlin-Film, sondern auch das Porträt einer vielfältigen Metropole, in der unterschiedliche Lebensentwürfe möglich sind.
Gerster hat in Schwarz-Weiß gedreht und den Film mit einem Jazz-Score unterlegt. Das gibt ihm eine traumhafte, mythisch überhöhte und streng stilisierte Qualität, in der nichts (erst recht keine Farbe) vom Geschehen ablenkt. Möglich, dass Gerster Spuren zur Filmgeschichte auslegen wollte, zu den schwarz-weißen Filmen von Woody Allen oder Jim Jarmusch. Assoziationen, die nicht unbedingt stimmen müssen. Gerster hat eine sehr eigenständige, ungewöhnliche Komödie inszeniert, die keiner Vorbilder bedarf.