Was könnte den Anstoß für eine solch hinreißend verrückte Geschichte gegeben haben? Vielleicht haben Gore Verbinski und Johnny Depp nach den Dreharbeiten zu „Pirates of the Caribbean – Am Ende der Welt“
(fd 38 198) betrunken in der Kneipe darüber sinniert, jene Szene aufzugreifen, in der Jack Sparrow am Ende der Welt im gleißenden heißen Sand umherirrt. Vielleicht träumte Drehbuchautor John Logan angesichts der wirren Handlung von Terry Gilliams „Fear and Loathing in Las Vegas“
(fd 33 325) von einem Chamäleon, das Johnny Depps Rolle übernimmt und den Krimiplot aus Roman Polanskis „Chinatown“
(fd 19 120) zu Ende spielt. Solche Mutmaßungen erklären nur in Ansätzen das Abenteuer, das hier ein zierliches Chamäleon in der staubigsten Wüste des trostlosen US-amerikanischen Südwestens erlebt. Zu Beginn ist das Reptil noch namenlos und stolz auf seine Domestizierung im heimischen Terrarium, in dem es nichts lieber tut, als neu kreierte Theaterstücke auszuprobieren. Dumm nur, dass dieses Terrarium bei der Fahrt über eine trockene Landstraße der Mojave-Wüste aus dem Cabrio des Herrchens verschwindet. Das Reptil trifft am sengenden Straßenrand auf ein platt gefahrenes Gürteltier namens Roadkill, das ihm vom Traum berichtet, einmal auf die andere Straßenseite zu kommen. Schließlich wird das Chamäleon, das sich fortan Rango nennen wird, vom an stressbedingten Lähmungserscheinungen leidenden (weiblichen) Wüstenleguan Bohne aufgegabelt und in die Stadt Dirt geleitet, die die lebensfeindliche Tristesse amerikanischer Westernkäffer ausstrahlt. Dirt hat ein Problem: Es gibt kein Wasser. Die Vorräte sind fast verbraucht, und selbst die stillen Reserven auf der hiesigen Wasserbank gehen zur Neige. Einst lebten die Krötenechsen, Gilas, Mäuse und Wüstenschildkröten in einem kleinen Idyll, doch dann hielt das Unrecht hielt Einzug, und die Guten landeten auf dem örtlichen Friedhof. Würde sich Rango nicht im örtlichen Salon lebensmüde aufspielen und sich zum Helden fabulieren, wäre es wohl dabei geblieben. Doch nun wird er der neue Sheriff, kommt auf sämtlichen Abschusslisten des korrupten Bürgermeisters und ist trotzdem bemüht, Dirt das zu geben, was es am dringendsten braucht: Liebe und Wasser.
Was in diesem Animationsfilm als eine Mischung aus Italo-Western und der halben US-amerikanischen Filmgeschichte daherkommt, ist ein erstaunliches Wunder ungezügelter Fabulierlust, die es mit Charles Bukowski und Hunter S. Thompson, aber auch mit Alan Alexander Milne („Pu der Bär“) aufnehmen kann. Das Wundersamste daran ist, dass „Rango“ ebenso gut als psychedelischer Selbsterfahrungstrip für Erwachsene funktioniert wie als rasanter Abenteuerfilm für Kinder ab zehn Jahren. Gore Verbinski schichtet intellektuelle und unterhaltende Erzählebenen dermaßen virtuos übereinander, dass alle ungestört ihre Unterhaltungskraft entfalten können. Tiefgründiges steht da neben Albernem, Ambitioniertes neben Trashigem, Slapstick neben wortgewandten Pointen; nichts von alledem neutralisiert sich, im Gegenteil: Alles befruchtet sich. Dabei kommt „Rango“ zugute, dass hinter seinem tierischen Hauptdarsteller Johnny Depp steht, der seinem Charakter nicht nur (im Original) die Stimme, sondern auch ein wenig Physiognomie und (dank Motion Capturing) viel von seiner „campen“ Attitüde geliehen hat: Jack Sparrow lässt grüßen! Wie kaum ein anderer Hollywood-Schauspieler vereint er Anarchie, Intellekt und Unterhaltung. (David Nathan, die deutsche Synchronstimme von Johnny Depp, adaptiert perfekt sein Alter Ego.) Zur dramaturgischen Radikalität gesellt sich die formale Perfektion: Die kalifornische Firma Industrial Light and Magic (ILM), die von „Krieg der Sterne“
(fd 20 658) bis „Avatar“
(fd 39 663) das Maß aller Dinge im Bereich der visuellen Special Effects ist, verantwortet mit „Rango“ ihren ersten Animationsfilm, und selbst die aufwändigen stereoskopischen 3D-Grafiken aus „Avatar“ verblassen angesichts der verblüffenden Natürlichkeit, mit der hier selbst das kleinste Sandkorn rieselt. Man taucht in die kräftigen Farben eines märchenhaft-rasanten Trickfilms ein und vergisst sogleich die triste Alltagswelt. Das ist das wahre Kino!