Ein Pariser Videothekar wird von einer verirrten Kugel in den Kopf getroffen. Er findet Zuflucht bei einer Gruppe wunderlicher Außenseiter auf einem Schrottplatz, wobei ihn die Mitglieder dieser bizarren Patchwork-Familie dabei unterstützen, es den Urhebern seiner Misere heimzuzahlen. Das retrofuturistisch angehauchte Drama entwirft eine Welt voller magischer Dinge, um von der Liebe zu erzählen. Die überbordende Fantasie erweckt den Eindruck, als hätten sich Leonardo da Vinci und Monty Python in HD ausgetobt, wobei die Inszenierung vor allem durch das hervorragende Darstellerensemble stets ausbalanciert wird.
- Sehenswert ab 14.
Micmacs - Uns gehört Paris!
Drama | Frankreich 2009 | 104 Minuten
Regie: Jean-Pierre Jeunet
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Filmdaten
- Originaltitel
- MICMACS
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- Epithète Films/Tapioca Films/Warner Bros. Ent. France/France 2 Cinéma/France 3 Cinéma
- Regie
- Jean-Pierre Jeunet
- Buch
- Jean-Pierre Jeunet · Guillaume Laurant
- Kamera
- Tetsuo Nagata
- Musik
- Raphaël Beau
- Schnitt
- Hervé Schneid
- Darsteller
- Dany Boon (Bazil) · Julie Ferrier (Mademoiselle Kautschuk) · André Dussollier (Nicolas Thibault de Fenouillet) · Nicolas Marié (François Marconi) · Jean-Pierre Marielle (Canaille)
- Länge
- 104 Minuten
- Kinostart
- 22.07.2010
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
Seit „Delicatessen“ (fd 29 487), seinem morbiden Erstlingswerk, in dem die Farben wie kurz durch schwarz- braune Tinte gezogen wirken, lassen sich die Filme von Jean-Pierre Jeunet stets an ihrem „Look“ erkennen. Jeunets Kosmos wird beseelt von Alltagssituationen, die auf widersinnige Weise nicht von dieser Welt zu sein scheinen, so auch „Die fabelhafte Welt der Amélie“ (fd 34 999), Jeunets bis dato berührendstes Filmexperiment. Dabei ist Jeunet kein romantischer Schönwetter-Regisseur, wie man spätestens seit den grauenhaften Sequenzen auf den Schlachtfeldern in „Mathilde – Eine große Liebe“ (fd 36 882) weiß. In den ersten Minuten von „Micmacs“ nun reibt sich Jeunets einzigartiger Stil an der ungewöhnlichen Schauspielerführung, und man fragt sich verwundert, in welcher Welt das alles passiert. Dem Anschein nach ist es ein Stadtteil von Paris, in dem der introvertierte Bazil seine Arbeitstage in einer kleinen Videothek damit verbringt, alte Krimis zu sichten. Wie in einem Film quietschen dann aber echte Reifen vor seiner Tür, und der Schuss, der sich während einer Verfolgungsjagd löst, trifft Bazil zwischen die Augen. Was das frühe Ende der Geschichte zu sein scheint, lässt diese gerade jetzt erst interessant werden.
Bazil überlebt, weil der Chirurg eine Münze wirft und die Kugel im Kopf belässt. Dort kann sie Bazil zwar seltsame Streiche spielen, vielleicht eines Tages auch töten, doch zunächst steht einem „normalen“, also völlig aus der Bahn geratenen Leben nichts im Weg. Ohne Job, ohne Freundin und Wohnung, nur mit einer ihn knapp verfehlten zweiten Pistolenkugel bewaffnet, irrt Bazil durch die Stadt und landet bei einer bizarren Truppe von Außenseitern, die sich an der Seine aus blechernem Wohlstandsmüll ein labyrinthisches Märchenschloss für Ausgestoßene geschaffen haben. Bazil wird aufgenommen und als „seriöses“ Mitglied einer Patchwork-Familie adoptiert, die sich um die lebensfrohe Köchin Cassoulette, den gewitzten Rechenkünstler Calculette, die biegsame Schlangenfrau Mademoiselle Kautschuk, das menschliche Metallersatzteillager Bricàbrac, den afrikanischen Ethnografen Remington und den virtuosen Metallpuppenkünstler Petit Pierre gruppiert. Mit ihnen kommt der weltferne Mann prächtig aus, und mit ihnen kommt er auch dem Geheimnis der Kugel in seinem Kopf auf die Spur. Das auf ihr eingeprägte martialische Logo führt Bazil zu den windigen Waffenproduzenten François Marconi und Nicolas Thibault de Fenouillet, die, wenn sie sich nicht gerade gegenseitig bekriegen, die Welt mit Mordwerkzeugen überschwemmen. Die verwegenen Sieben von der Müllhalde beschließen, den armen Bazil zu rächen, und planen einen höchst skurrilen Coup, den die Waffenlobbyisten ihr Leben lang nicht vergessen sollen.
Retro-Futurismus wird als eine „Vorstellung der Zukunft“ definiert, „die in der Vergangenheit vorherrschte und die wir von heute aus retrospektiv betrachten“. Davon ist „Micmacs“ beseelt, was die seltsamen anachronistischen Dinge, mit denen die Protagonisten zu Werke gehen, aufs Wunderschönste bezeugen. Assoziationen zum „Steampunk“ von Terry Gilliams „Brazil“ (fd 25 074) werden wach, ebenso zu den Werken der Schweizer Kettenreaktionskünstler Peter Fischli und David Weiss, zu den Trickfilmfiguren von Tex Avery sowie der kinetischen Kunst von Jean Tinguely. „Micmacs“ ist ein immenses Arsenal voller skurriler Fundstücke, an denen man sich nicht satt sehen kann. Als hätten sich Leonardo da Vinci und Monty Python gemeinsam ausgetobt und alles mit neuester HD-Technik auf Zelluloid gebannt! Für die Erdung des kreativen Wirrwarrs sorgen die vorzüglich aufgelegten Darsteller, allen voran die verschmitzte Yolande Moreau als Seele der Truppe, Dany Boon als herrlich verlorener Hauptdarsteller und André Dussollier, der köstlich-böse den bourgeoisen Waffenfetischisten Thibault ausstellt. Alle Figuren tragen die reizüberflutete Geschichte auch über die wenigen Durchhänger hinweg und glänzen immer dann, wenn die Geschichte banal zu werden droht. Jeunet ist bei allem Aktionismus und formalen Spielwillen ein Schauspielerregisseur, der eine langjährige enge Zusammenarbeit mit seinem Ensemble pflegt. Ein wahres Wunder gelingt dem Team vor und hinter der Kamera dann im furiosen Finale, wenn den Waffennarren eins ausgewischt wird – denkwürdige Filmminuten, ganz im Stile Jeunets.
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