Postcard To Daddy

Dokumentarfilm | Deutschland 2010 | 84 Minuten

Regie: Michael Stock

Dokumentarfilm, in dem der Regisseur sein eigenes Kindheitstrauma aufarbeitet: Er wurde über Jahre hinweg von seinem Vater missbraucht. Wie in einem Videotagebuch entfaltet sich das Porträt einer Mittelstandsfamilie, in der das Opfer an Scham- und Schuldgefühlen zu zerbrechen droht. Eine beklemmende Erzählung über Hass und Versöhnung, unüberwindbare Verletzungen und die Notwendigkeit des Weiterlebens, wobei der Filmemacher nicht nachträglich mit dem Täter ins Gericht geht, sondern sich bemüht, die eigene Rolle neu zu bestimmen.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Oculus Film
Regie
Michael Stock
Buch
Michael Stock
Kamera
Michael Stock · Guido Diek
Musik
Michael Stock · Joseph Tieks
Schnitt
Michael Stock · Robert Quante · Till Kostinen
Länge
84 Minuten
Kinostart
27.05.2010
Fsk
ab 16 (DVD)
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Ganz am Ende kommt es zur Begegnung mit „Daddy“, dem Adressaten des Films. Roland Stock hat seinen Sohn Michael acht Jahre lang sexuell missbraucht, hat aus dessen Leben eine lange Leidensgeschichte gemacht, die noch nicht zu Ende ist, aber nach einem friedlichen Abschluss sucht. Nun sitzt „Daddy“ im Rollstuhl, ein kranker, gebrochener Mann, nicht unoffen, aber doch erschreckend taub für die Zerstörungen, die er angerichtet hat. Wie er es sich erkläre, dass für ihn kein Tag verginge, an dem er nicht daran denke, während es den Vater nie besonders beschäftigt hat. „Ich habe einfach das dickere Fell“, sagt er, ohne die Härte seiner Aussage zu begreifen. Den fertigen Film kennt er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, er wird ihn sich ansehen. „Postcard To Daddy“ ist eine sehr persönliche Reise in die Hölle der Vergangenheit des Filmemachers, verbunden mit dem Wunsch, das Geschehene besser zu verstehen, seine Rolle darin neu zu bestimmen. Nach einem erneuten Schlaganfall hat ihm seine Mutter eine „Gesundungsreise“ nach Thailand geschenkt, für Michael Stock wird sie zum Ausgangspunkt für eine schonungslos offene Aufarbeitung. Sein an ein Videotagebuch erinnernder Dokumentarfilm ist eine beklemmende Erzählung über Opfer und Täter, Versöhnung und Hass, unüberwindbare Verletzungen und die Notwendigkeit des Weiterlebens. Einen symbolischen Gerichtsprozess führt Michael Stock jedoch in keinem Moment, und das ist bewundernswert. Familienfotos rekonstruieren die Biografie einer ganz gewöhnlichen Mittelstandsfamilie. Die Mutter erzählt von ihrer Sehnsucht nach einer heilen Familie, nach bürgerlicher Normalität, und für kurze Zeit sieht es so aus, als habe sich dieser Wunsch realisiert. Darüber, dass ihr Mann Alkoholiker war, hat sie zunächst hinweg gesehen, seine vitale Ausstrahlung gefiel ihr. Langweilig sei der Vater nie gewesen, erzählen auch Michaels Schwester und der ältere Bruder; er hat als einziger Kontakt zum Vater, die Mutter ist schon lange vom Vater getrennt, die Schwester hat einen radikalen Bruch vollzogen. Vom Missbrauch haben die Geschwister nichts mitbekommen, auch die Mutter nicht. Sie kannte ihren Mann als heterosexuell, ja sogar als Schürzenjäger, der selbst in ihrer Gegenwart jede Frau „anbaggerte“. Einmal wäre sie fast Zeugin des Missbrauchs geworden, so Michael, doch er versteckte sich unter dem Ehebett, harrte die Nacht dort aus; das Gefühl der Demütigung muss unerträglich gewesen sein. Sehr direkt und offen erzählt er vom Missbrauch, wie der Vater danach aus dem Zimmer ging und ihn mit seinen Schuldgefühlen allein ließ, wie diese Scham ihn davon abhielt, sich seiner Mutter anzuvertrauen, wie die sexuellen Übergriffe des Vaters mit seiner eigenen Sexualität in Konflikt gerieten. Dass er in diesem Szenario das Opfer war, hat er lange nicht begriffen, und als es dann soweit war, wurde ihm auch diese Rolle zur unerträglichen Last. Er hat einen Selbstmordversuch hinter sich, Suchterfahrungen gemacht: Drogen und Sex, ohne Rücksicht auf den Körper; denn auch nachdem er dem Missbrauch ein Ende gesetzt hatte, nach Berlin ging und dort in die Schwulenszene eintauchte, blieb er dem Opferschema verhaftet, verstand sich als ein passives sexuelles Objekt, über das man verfügen kann. Nach seinem durch die Begegnung mit Rosa von Praunheim angeregten Film „Prinz in Hölleland“ (fd 30470) – einem Porträt der Berliner Subkultur im Spannungsfeld von Drogen und schwulem Sex – arbeitete Stock zunächst an der filmischen Aufarbeitung seiner Missbrauchsgeschichte im Spielfilmformat. Dabei musste er wiederholt erfahren, wie seine eigene Geschichte von Fernsehredakteuren auf die vermeintlichen Bedürfnisse eines Massenpublikums zurechtgebogen wurde: Zunächst sollte das schwule Paar durch ein heterosexuelles ersetzt werden, dann gab die Aussöhnung mit dem Vater Anlass zur Kritik – sie sei sogar noch unappetitlicher als der Missbrauch selbst, hieß es. Das Projekt wurde fallen gelassen. Heute ist Michael Stock 41 Jahre alt, HIV-positiv, zweifellos beschädigt, aber nicht verbittert. Er hat sich seine Subjektposition in dieser Leidensgeschichte hart erkämpft, nicht zuletzt wird ihm seine „Postcard To Daddy“ dabei geholfen haben.
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