Ein gutsituierter Bauleiter und Familienvater schlittert in eine Midlife-Krise und erinnert sich prompt an eine frühere Geliebte. Die satirische Komödie findet überzeugende filmische Erzählmittel für das Gefühl umfassender Entfremdung und fasst einen emotionalen Ausnahmezustand präzise in Bilder, die über Raumpoetik, Farbdramaturgie und Perspektivierung die Erlebniswelt des Helden transparent machen. Dass dabei die Lakonie bisweilen etwas dick aufgetragen wird, fällt kaum ins Gewicht.
- Ab 14.
Mensch Kotschie
Komödie | Deutschland 2009 | 96 Minuten
Regie: Norbert Baumgarten
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- Junifilm/SWR/BR/Koppfilm
- Regie
- Norbert Baumgarten
- Buch
- Norbert Baumgarten
- Kamera
- Lars Lenski
- Musik
- Michael Eimann
- Schnitt
- Jürgen Winkelblech
- Darsteller
- Stefan Kurt (Jürgen Kotschie) · Claudia Michelsen (Karin Kotschie) · Ulrike Krumbiegel (Carmen Schöne) · Axel Werner (Kotschies Vater) · Max Mauff (Mario Kotschie)
- Länge
- 96 Minuten
- Kinostart
- 18.03.2010
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Komödie
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
„Ich sehe was, was Du nicht siehst“, steht mit hintergründigem Humor auf der Rückseite eines Fotos, das Kotschie mit seiner einstigen Geliebten Carmen zeigt: Nur zusammengefaltet ergeben die beiden darauf ein Paar, in der auseinander geklappten Version sitzen die jeweiligen Ehepartner zwischen ihnen. Der Satz umschreibt aber vor allem recht treffend Kotschies derzeitigen Gemütszustand. Denn kurz vor seinem 50. Geburtstag hat den Bauleiter und Familienvater eine schwere Sinnkrise erwischt: Als wäre er seiner Identität, seinem ganzen Leben entrutscht, sieht er seinem Dasein fortan wie aus zwei Metern Abstand zu. Im so genannten „realen“ Leben ist Jürgen Kotschie nur mehr als Hülle anwesend, als eher schlecht „funktionierender“ Ehegatte, Vater und Angestellter. Und manchmal offenbar nicht einmal mehr als das: das suggerieren zumindest der ihn ignorierende Baumarkt-Mitarbeiter oder die Glastüren, die sich nicht vor ihm öffnen wollen.
Die stimmigen szenischen Einfälle, die hier für das Gefühl der Entfremdung, des Neben-Sich-Stehens gefunden wurden, sind neben dem Hauptdarsteller Stefan Kurt die zentrale Stärke dieser Tragikomödie: Wasserhähne, die zu laufen beginnen, wenn Kotschie seine Hände unter den Wasserhahn nebenan hält. Kotschie, den man mit seiner Frau Karin telefonieren hört, während er im Bild mit unbewegtem Gesicht zu sehen ist. Die endlose Telefon-Warteschleife, in der Kotschie hängt, während er durch eine Glasscheibe die sich seltsam gebärdenden Bürokollegen beobachtet. Überhaupt, die ständigen Telefonate, diese künstliche Form der Kommunikation mit ihren Nicht-Inhalten und Floskeln: Nicht umsonst wird der Titelheld im Zuge seines Ausbruchsversuchs, bei dem er sich auf den Weg zu seiner einstigen Geliebten macht, sein Handy aus dem Autofenster schmeißen. Und zu all dem immer wieder die A-cappella-Gesänge aus dem Off, die auf Dauer etwas Enervierendes, fast Hypnotisierendes haben und damit auf eine seltsame Weise zu der „Parallelwelt“ passen, in der sich Kotschie befindet. Wie der von Kevin Spacey gespielte Lester Burnham in „American Beauty“ (fd 34 066) durchlebt auch Jürgen Kotschie in der so genannten „Mitte des Lebens“ die albtraumhafte Erkenntnis, dass es das nun gewesen sein soll: ein sattes bürgerliches Dasein, komplett mit Vorstadthäuschen, adretter Gattin und halbwegs geratenem Nachwuchs. Und wie Burnham reagiert Kotschie unter anderem mit nächtlichen Fitnessübungen, leisen Versuchen, sich der Jugend anzunähern, einer wieder entdeckten Offenheit für erotische Versuchungen. Auch an den argentinischen Film „The other – El otro“ (fd 38 656), der von einem Mann erzählt, der für einige Tage in fremde Identitäten schlüpft, erinnert „Mensch Kotschie“ in einigen Motiven – das Sterben des Vaters etwa oder die Bedeutung einer paradiesischen Naturidylle beim Versuch, dem eigenen Leben zu entfliehen. Trotz solcher Parallelen ist „Mensch Kotschie“ ein vollkommen eigenständiger Film, der sich auf ebenso groteske wie poetische Weise, mit wenig Dialogtext und sehr filmisch, der Erkundung eines emotionalen Ausnahmezustandes verschreibt. Höchst ambitioniert und sehr präzise setzen der Regisseur und sein Kameramann Lars Lenski die Wirkung der Bilder ein: Zugige moderne Architektur, akkurat gepflegte Gärten, dezente farbliche Verfremdungen, leicht verschobene Perspektiven und lange, ruhige Einstellungen, die den lakonischen Blick aufs Geschehen betonen. Nur in Sachen Lakonie schießt der Film gelegentlich übers Ziel hinaus, etwa in der Darstellung von Kotschies sich stets an einer TV-Fernbedienung festklammernden Vaters. Abgesehen von solchen kleinen Einschränkungen aber ist Norbert Baumgartens zweiter Kinofilm ein ebenso gewitzter wie origineller Beitrag zum durchaus ja nicht neuen Thema männliche Midlifecrisis.
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