Im nächsten Leben

Drama | Deutschland 2008 | 82 Minuten

Regie: Marco Mittelstaedt

Ein Reporter, der früher als Fotograf für die DDR-Nachrichtenagentur arbeitete, tut sich seit der Wende bei einem Boulevardblatt eher schwer und braucht eine "heiße Story", um seine Zukunft zu sichern. Das Verschwinden eines Mädchens in dem Ort, in dem seine Tochter als Lehrerin arbeitet, scheint seine Chance zu sein. Als er seine Tochter bei der Aufarbeitung des Falls einspannen will, brechen alte Wunden auf. Präzise Alltagsbeobachtungen, schöne, ruhige Bilder und ein ebenso zurückhaltend wie überzeugend aufspielendes Ensemble machen aus dem kleinen Film ein überzeugendes Familiendrama um die Narben der Nachwendezeit. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Kaminski.Stiehm.Film/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)/arte
Regie
Marco Mittelstaedt
Buch
Marco Mittelstaedt · Sven S. Poser
Kamera
Michael Kotschi
Musik
Lars Löhn
Schnitt
Vincent Assmann · Gergana Voigt
Darsteller
Edgar Selge (Wolfgang Kerber) · Anja Schneider (Margitta Seiler) · Ralf Dittrich (Konrad Probst) · Marie-Luise Stahl (Simone Harder) · Silvina Buchbauer (Peggy Gehrke)
Länge
82 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
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IMDb | TMDB

Diskussion
„Fleißig – flexibel – furchtlos“, das ist der Werbeslogan des Berliner Boulevardblattes, für das Wolfgang Kerber arbeitet. Doch viel besser als zu Werbezwecken taugen diese Adjektive zur Beschreibung der im Turbokapitalismus (vermeintlich) nötigen Charaktereigenschaften. Denn davon erzählt „Im nächsten Leben“: von Kerber, einem einst privilegierten Fotografen der DDR-Nachrichtenagentur ADN, dem der Schritt ins wiedervereinigte kapitalistische Deutschland, ins „nächste Leben“, nicht recht gelungen ist. Äußerlich zwar schon: In einem großen Wagen fährt der Boulevard-Reporter übers platte Berliner Umland und setzt per Handy seine Geschichten über Autounfälle und verrohte Jugendliche an die Redaktion ab. Doch langsam zeigen sich Risse: Kerber arbeitet zu langsam, zu ineffizient und zu spesenintensiv. Außerdem hat er ein Problem damit, wenn die recherchierten Fakten vor Drucklegung sensationalistisch verdreht und aufgemotzt werden. Er ist, alles in allem: Unzeitgemäß. Ein Auslaufmodell. Sein viel jüngerer Chef ist unzufrieden, Kerber steht unter Druck – eine starke Geschichte muss her. Kerbers Kumpel und Informant Probst, der regelmäßig den Polizeifunk abhört, hat aber auch nur die vage Meldung von einer verschwundenen Schülerin aus Wolfen zu bieten. Von eben jenem Mädchen hatte Kerber bereits über seine Tochter Margitta erfahren, die als Lehrerin in dem sachsen-anhaltinischen Ort arbeitet. Auch wenn es keinerlei Anhaltspunkte für ein Verbrechen gibt, ist sich Kerber sicher: Die verschwundene Simone ist die heiße „Story“, die seine berufliche Existenz rettet. Er fährt nach Wolfen, besucht Vater und Mitschüler des Mädchens. Da Kerber nur sieht, was er sehen will, hat er seine Geschichte von der gemobbten, malträtierten Außenseiterin schnell beisammen. Als er dann aber auch noch Margitta für seine Zwecke einspannen will, brechen alte Verwundungen auf: Über den Tod von Ehefrau bzw. Mutter, an dem sich Vater und Tochter gegenseitig die Schuld zuweisen, sind beide nicht hinweg. Margitta aber zumindest wagt den Blick zurück, stellt das gelebte Leben zwischen Repressalien, Opportunismus und Pankower Privilegien in Frage. Kerber hingegen lebte stets nach der Taktik „Augen zu und durch“ – oder, um mit Honecker zu sprechen: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ Ob die von der Tochter erzwungene Rückschau am Ende wirklich etwas in ihm verändert hat, lässt der Film klugerweise offen. Überhaupt spart sich „Im nächsten Leben“ die großen Antworten ebenso wie die großen Schicksale, die großen Gesten, die großen Bögen: Die Vergangenheit der Familie Kerber liefert keinen jener aufgemöbelten „Die-ganze-DDR-in-90-Minuten“-Plots, wie sie das Fernsehen seit einigen Jahren zunehmend bietet. Die Vergangenheit der Familie Kerber ist eine Geschichte ohne klare Opfer-, Täter- oder Heldenprofile, ohne klar zu definierende Schuld, weder auf politischer noch privater Ebene. Die Vergangenheit der Kerbers ist aber auch die Vergangenheit des Autors und Regisseurs Marco Mittelstaedt, der sich zu „Im nächsten Leben“ von der Geschichte seines eigenen Vaters inspirieren ließ: Der einstige Cheffotograf der ADN wechselte noch im Herbst 1989 als Polizeireporter zu „Deutschlands größter Boulevardzeitung“. Das, was ihn als 17-Jährigen erboste – dass sein Vater als „Wendehals“ zu ausgerechnet der Zeitung ging, die wie kaum etwas anderes den „Klassenfeind“ repräsentierte –, sehe er heute differenzierter, schreibt Mittelstaedt im Pressematerial zu seinem Film. Diese „abgehangene“, auf angenehme Weise nüchterne Haltung gegenüber der eigenen Familiengeschichte ist der Produktion anzumerken. Präzise Alltagsbeobachtungen, schöne, ruhige Bilder (Kamera: Michael Kotschi) und ein ebenso zurückhaltend wie überzeugend aufspielendes Ensemble rund um den wie stets herausragenden Edgar Selge prägen diese Studie über die Narben, die die Wende hinterlassen hat. Ein im besten Sinne kleiner Film ist „Im nächsten Leben“ geworden – weshalb er auch auf der großen Leinwand nicht fehl am Platz wirkt.
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