Dokumentarfilm | Jordanien/Niederlande/Deutschland/Schweiz/USA 2007 | 82 Minuten

Regie: Mahmoud al Massad

Der Alltag eines frommen Moslems aus der jordanischen Stadt Sarka, der früher in Afghanistan gegen die Russen kämpfte und ein Buch über den "Heiligen Krieg" verfasste. Obwohl er der politischen Agitation längst abgeschworen hat, stellt der US-Krieg "gegen den Terror" alte Fragen wieder neu. Der Dokumentarfilm verweigert konsequent alle Identifikationsangebote und präsentiert seinen Protagonisten und dessen Lebensumfeld als Spiegel für die komplexe politische Situation im Nahen Osten. (O.m.d.U.)
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Filmdaten

Originaltitel
E'ADAT KHALQ
Produktionsland
Jordanien/Niederlande/Deutschland/Schweiz/USA
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
iSee Film/Jo Image/mec film
Regie
Mahmoud al Massad
Buch
Mahmoud al Massad
Kamera
Mahmoud al Massad
Schnitt
Majed Ameri · Sami Chekhes · Mahmoud al Massad
Länge
82 Minuten
Kinostart
-
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
In der jordanischen Stadt Sarka wird gebetet. Die Gläubigen haben sich vor der Moschee versammelt. Unter ihnen befindet sich auch der Familienvater Abu Ammar. Mit fast einer Million Einwohnern ist Sarka die zweitgrößte Stadt Jordaniens und nicht nur ein religiöses Zentrum, sondern auch ein einflussreiches Territorium der „Gotteskrieger“. Sarka ist der Geburtsort des irakischen Al-Qaida-Chefs Abu Musa El Sarkawi, der 1995 von den amerikanischen Truppen im Irak getötet wurde. Der Terrorist, der Gotteskrieger, der Sohn der Stadt ist in den Erzählungen und den Erinnerungen der Einwohner gegenwärtig. Sarka ist aber auch der Geburtsort des palästinensischen Filmemachers Mahmoud Al Massad. Er zeigt in „Recycle“ den Alltag dieser Stadt, und er zeigt ihn exemplarisch am Leben und Überleben des ehemaligen Afghanistan-Kämpfers und frommen Moslem Abu Ammar. Der hat ein Buch über den Jihad, den heiligen Krieg, geschrieben und schlägt sich mit seinen zwei Frauen und seinen Kindern in seiner Heimatstadt als Altpapiersammler durch. Aber es fehlt an allen Ecken. Sein alter VW-Transporter springt nicht mehr an. Für die Reparatur hat er kein Geld. Mit seinen Kindern sammelt Abu Ammar Kartons in den Straßen der Stadt. Mit Politik habe er schon lange nichts mehr zu tun, sagen seine Freunde und Nachbarn, die oft in seinem Wohnzimmer sitzen und theologische Gespräche führen: Diskussionen, ob der Tod im Jihad direkt ins Paradies führe oder nicht. Ob Osama Bin Laden vor dem 11. September daran gedacht habe, wie viel Leid er den Moslems in Afghanistan und im Irak zufügen würde? Ob er vielleicht sogar Theologen hierzu befragt habe? Nach den Diskussionen geht es wieder auf die Straße, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Immer wieder sieht man Abu Ammar am Computer, wo Texte in arabischer Schrift an den Augen der Zuschauer vorübergleiten. Auch das ein visueller Hinweis, wie vieles, was scheinbar so leicht erklärbar ist, doch unverständlich bleibt. Es ist eine der Stärken des Films, dass er über die sachliche, mitunter spröde Schilderung des Alltags Vorurteile in Frage stellt oder Situationen beschreibt, die das gängige Bild ins Wanken bringen, etwa wenn Abus Zweitfrau die Schwangerschaftsberatung des katholischen Krankenhauses besucht. Immer wieder spiegeln einfache Begebenheiten den Kampf ums Überleben. Über der Stadt und den Sorgen des Alltags liegt ein bleigrauer Himmel. Gibt es genügend Milch, genügend Nahrung? Passen dem Sohn die Schuhe? Daneben beschäftigt Abu Ammar vor allem eine existenzielle Frage: Ist es einem gläubigen Moslem erlaubt, auszuwandern? Nein, lautet die Antwort, denn Gott verstößt diejenigen, die mit Ungläubigen zusammenleben. Das Schlimmste, was man tun könne, sei es, die amerikanische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Beim Ausfüllen der Formulare bei der US-Einwanderungsbehörde fällt es ihm schwer, seine wirtschaftliche Situation zu beschönigen. In solchen Szenen werden Bilder zu Symbolen: Wenn der kleine Sohn mit der Pistole lachend auf die Kamera zuläuft oder wenn Abu Ammar sich den Bart schneidet, um in der US-Botschaft ein Visum zu beantragen. Am 9. November 2005 explodieren drei Bomben in Hotels der jordanischen Hauptstadt Amman. Abu Ammar wird verhaftet, aber nach vier Monaten wieder freigelassen. Wenig später erklärt der amerikanische Präsident in den Nachrichten, dass Al Sarkawi getötet worden sei. Abu Ammar nimmt Abschied: Im Morgengrauen fährt er mit seinem VW-Transporter zum Beten in die Berge; zuvor bittet er seine Mutter in seinem Abschiedsbrief: „Sei gut zu meinen Kindern und zu meinen Frauen.“ „Recycle“ ist ein unprätentiöser Dokumentarfilm über einen von Zweifeln geplagten Menschen, Familienvater und Moslem. Regisseur Mahmoud Al Massad verzichtet auf Simplifizierungen und einfache Identifikationsangebote; er zeigt den Protagonisten und sein Umfeld vielmehr als Spiegel der komplexen Situation im Nahen Osten.
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