Drinnen spielt die Musik. Berlin taucht in diesem Film eigentlich nur in Spurenelementen auf. Hannes Stöhrs dritter Kinospielfilm ist ein Künstlerdrama der tragikomischen Art, in dem der Drehort eher versteckt denn auf dem Präsentierteller serviert wird. Mal bröckelt ein Reststück Berliner Mauer in den Film, mal bleibt die Kamera wie aus Versehen am Fernsehturm hängen, der hier wirkt wie eine Discokugel am Schaschlikspieß. Die Sightseeing-Sucht bleibt jedenfalls denkbar unbefriedigt.
„Berlin Calling“: Der Ruf der Metropole hat sie irgendwann hergelockt, die Geschäftsleute, Musiker, Raver, Lebenskünstler, Dealer und Junkies, die im Film mitspielen. Dann aber haben sich die Neuberliner in Technoclubs oder Büros verkrochen. Oder sich in ihren Arbeitshöhlen hinter Computer-Equipment verschanzt wie Martin Karow. Der Mann bekommt entschieden zu wenig Sonne. Unter dem Künstlernamen „DJ Ickarus“ tüftelt er an den Sounds, mit denen er die Techno-Fans zum Tanzen bringt. Ickarus hebt zum Höhenflug im Musikbusiness ab – aber Martin ist irgendwie nicht ganz mitgekommen. Ihm fehlt die Mitte zwischen den Extremen. Als Live-Akrobat am Mischpult steht er sichtlich unter Hochspannung, zu Hause liegt er schlaff im Sessel, vor allem, wenn sein Dealer die Wohnung verlässt und seine Freundin Mathilde sich fragt, wie viel Gramm Kokain diesmal den Besitzer gewechselt haben. Eine Designer-Pille bringt das Fass zum Überlaufen: Nach einem Auftritt verliert Ickarus die Orientierung und landet in der Drogenstation einer Berliner Nervenklinik. „Wir haben in Ihren Blutwerten fast alles gefunden, was es auf dem Markt gibt – außer Heroin“, konstatiert die Ärztin. Sie diagnostiziert „drogeninduzierte Schizophrenie“ und kann den Patienten zeitweise davon überzeugen, sich gemeinsam mit fünf Leidensgenossen in den Therapiealltag der Station einzufügen. Doch die Halluzinationen bleiben auch hier nicht aus. Ickarus fühlt sich wie ein Ertrinkender und flüchtet in die „normale“ Welt, in der inzwischen nichts mehr ist, wie es war: Mathilde lebt mit einer Geliebten zusammen, Alice, die Chefin seines Labels, legt Ickarus’ neues Album auf Eis und kündigt seinen Plattenvertrag, nachdem er ihr Büro demoliert hat. Zurückgekehrt in die Obhut der Nervenärztin, organisiert Ickarus eine „Abschiedsparty“, für die er die Drogenstation zum Tanzschuppen umfunktioniert. Die Ärztin „rächt“ sich mit dämpfenden Medikamenten und der Isolierung des Patienten in einer geschlossenen Station.
Hannes Stöhr legt die Geschichte weniger tragisch an, als die Inhaltsangabe es vermuten lässt. Mit Sicherheit lassen sich in deutschen Drogenkliniken Schicksale finden, die beängstigender sind als das, was DJ Ickarus widerfährt, oder was er mit sich selbst anstellt. Genau besehen, geht es den Nebenfiguren, die Stöhr seinem Protagonisten auf der Therapiestation zur Seite stellt, mindestens ebenso schlecht, doch sie werden im Hintergrund gehalten. Ansonsten gilt: dies ist kein Magengrubenkino, auch kein Kino, das die Zustände im Musikbusiness oder im Psychiatriebetrieb hieb- und stichfest auf Zelluloid bannen will. Die Drogenproblematik wird weder verharmlost, noch dient sie als Dreh- und Angelpunkt der Story. Stöhr legt den Finger viel eher auf den Puls eines Lebensgefühls, das beständig zwischen Rausch und unerträglicher Nüchternheit schwankt. Zwischen diesen Polen sucht Ickarus – der Namensmythologie zum Trotz – immer wieder Inseln der Geborgenheit, bekommt kurz Ufergras zu fassen, wird aber ständig abgetrieben. Die Story strukturiert sich durch jähe Wechsel. Auf „Heimurlaub“ ertappt Ickarus seine Freundin beim Sex mit einer Frau, wenig später liegen sie zu dritt im Bett, am Morgen wirft die Rivalin ihn dann hinaus. Die Beziehungen haben etwas Lockeres, doch keine Beziehung – auch das charakterisiert die Realität dieses Films – wird auf Nimmerwiedersehen gelöst. Viele Wege führen zurück nach Hause.
In „Das weiße Rauschen“
(fd 35263) von Hans Weingartner hatte ein pessimistischer Grundton geherrscht, obwohl sich Vergleichbares abspielte: Beim Abiturienten Lukas löste der Genuss von Psycho-Pilzen „paranoide Schizophrenie“ aus. Wie Lukas steht Ickarus am Ende vor der Entscheidung, die Tranquilizer, die ihm emotionale und physische Kraft rauben, in die Toilette zu schütten und damit einen Rückfall in die Psychose zu riskieren. Neben Weingartners Film scheint auch Milos Formans Klassiker „Einer flog über das Kuckucksnest“
(fd 19710) für die Psychiatrieszenen Pate gestanden zu haben. Wie Jack Nicholson belächelt Ickarus seine Zimmergenossen zuerst, um sich dann aber mit ihnen zu solidarisieren. Und wie im Fall von Schwester Mildred Ratched wird der Feind am oberen Ende der Krankenhaushierarchie in Gestalt einer zwielichtigen „Frau Oberin“ ausgemacht. In Corinna Harfouchs tausendmal sanfteren Version ist die „böse“ Medizinerin allerdings eher eine zweckoptimistische Fachidiotin, der es nicht grundsätzlich an Einfühlungsvermögen fehlt und schon gar nicht am guten Willen, ihre Patienten in ein gesundes Leben zu entlassen. Die Ärztin will immer nur das Beste (auch für ihre eigene Forschungsarbeit), erweist sich aber als unfähig, in den Patienten mehr als von Psychosen und Trieben gesteuerte Marionetten zu sehen.
Während Mathilde der einzige wirklich liebende Mensch auf weiter Flur zu sein scheint, wird die Musikbranche durch die eiskalte Businessfrau Alice vertreten, die ihren „Schützling“ nach dem Prinzip der ausgepressten Zitrone in die Tonne wirft, als er nicht mehr funktioniert. Als Ickarus schließlich doch zum richtigen Groove zurückfindet, lässt Alice ihn zu Promotionzwecken im Bewegungstherapiezimmer der „Anstalt“ ablichten und zwischen Gymnastikbällen und Discokugeln posieren. Dass Ickarus allzu oft Spielball (von Synapsengewittern, Therapieversuchen und Werbestrategien) ist, dass seine (Wut-)Ausbrüche im Gegenzug vor allem als Versuche zu werten sind, Spielraum, Selbstbestimmung und Freiheit zurückzugewinnen, mimt Paul Kalkbrenner derart zwanglos, dass man kaum glauben will, es mit einem schauspielerischen Laien zu tun zu haben. Kalkbrenner zählt zu Deutschlands erfolgreichsten DJs und sollte mit seinem Insiderwissen ursprünglich als Berater fungieren. Im Laufe des Projekts übernahm er die Hauptrolle und schrieb auch die fesselnde elektronische Musik, die zu Teilen aus computermanipulierten Stadtgeräuschen besteht. Die Genese solcher Tracks ist auch im Film zu erleben, wenn Ickarus mit seinem Mikrofon ein Türsignal in der Berliner U-Bahn auffängt und es am Rechner dann als Melodie verarbeitet. Wer genau hinhört, hört viel Berlin in diesem Film.