Eine Frau, die wegen Mordes an ihrem kleinen Sohn eine lange Haftstrafe verbüßte, wird aus dem Gefängnis entlassen und findet Unterkunft bei der Familie ihrer jüngeren Schwester. Diese hatte auf Druck ihrer Eltern den Kontakt zu der Älteren im Gefängnis abgebrochen; nun versucht sie, wieder eine Nähe aufzubauen. Das großartig gespielte, psychologisch dichte Schauspielerdrama zwingt den Zuschauer in einen Konflikt zwischen Empathie mit der Protagonistin, die die Erzählhaltung des Films dominiert, und der Antipathie, die man instinktiv gegen ihre Tat hegt. Er fordert damit heraus, eigene Vorurteile und den Umgang mit Schuld und Vergebung zu überdenken. Ein meisterliches Spielfilmdebüt.
- Sehenswert ab 16.
So viele Jahre liebe ich dich
Drama | Frankreich 2007 | 117 Minuten
Regie: Philippe Claudel
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Filmdaten
- Originaltitel
- IL Y A LONGTEMPS QUE JE T'AIME
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2007
- Produktionsfirma
- UGC YM/Intégral Film/France 3 Cinéma/UGC Images
- Regie
- Philippe Claudel
- Buch
- Philippe Claudel
- Kamera
- Jérôme Alméras
- Musik
- Jean-Louis Aubert
- Schnitt
- Virginie Bruant
- Darsteller
- Kristin Scott Thomas (Juliette) · Elsa Zylberstein (Léa) · Serge Hazanavicius (Luc) · Laurent Grévill (Michel) · Frédéric Pierrot (Polizist Fauré)
- Länge
- 117 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Sie hat das eigene Kind getötet; einen süßen kleinen Jungen. Das ist fünfzehn Jahre her. Ihre Haftstrafe hat Juliette Fontaine mittlerweile verbüßt. Verdient sie nun, nach ihrer Entlassung, eine neue Chance auf ein wenig Glück? „Natürlich“, sagt der soziologisch sensibilisierte Verstand. Aber das Herz der liebenden Eltern im Publikum schreit „Nein, niemals!“ Besser könnten die Voraussetzungen für ein aufwühlendes Drama kaum sein. Der französische Drehbuchautor, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Philippe Claudel weiß um den bohrenden Konflikt, den er mit dieser Ausgangssituation im Zuschauer anzettelt. Und mit seiner Inszenierung legt er so treffsicher den Finger in die Wunde, dass sich sein Regieerstling am Besten mit der paradox anmutenden Wendung vom „meisterhaften Debüt“ umschreiben lässt.
Als Juliette aus dem Knast kommt, nimmt ihre jüngere Schwester Léa sie mit offenen Armen bei sich auf. Getrieben vom schlechten Gewissen, weil sie ihre Schwester unter dem Druck ihrer Eltern fallen ließ und all die Jahre nicht im Gefängnis besuchte, möchte sie nun an die einst harmonische Beziehung gemeinsamer Kindheitstage anknüpfen. Doch während für Juliette hinter den Gefängnismauern die Zeit so gut wie stillstand, hat Léa geheiratet, zwei Kinder adoptiert und als Universitätsprofessorin Karriere gemacht. Die beiden Schwestern haben sich auseinander gelebt. Über das einzige, worüber sie reden könnten – die Umstände, die zum Tod von Juliettes Sohn geführt haben –, schweigen sie beharrlich. Léas Ehemann Luc erklärt sich derweil nur widerstrebend dazu bereit, Juliette bei sich wohnen zu lassen. Unter keinen Umständen möchte er ihr seine Kinder anvertrauen. Léa gegenüber macht er keinen Hehl daraus, dass er seine Schwägerin am liebsten gerne wieder los würde.
In diesen unterschiedlichen Reaktionen des Ehepaars spiegelt sich die innere Auseinandersetzung, die Claudel seinem Publikum zumutet. Doch erst dadurch, dass er die „Kindsmörderin“ im emotionalen Zentrum seines Filmes platziert, entsteht der quälende Reiz, die schmerzliche Faszination, die „So viele Jahre liebe ich dich“ zu einem besonderen, intensiven Kinoerlebnis macht. Der Widerspruch zwischen erzwungener Empathie und einer von der vagen Vorgeschichte genährten Antipathie steckt die Bühne für ein großartig gespieltes, psychologisch dichtes Schauspielerdrama ab, in dem Kristin Scott Thomas als widerspenstige Projektionsfläche für unbarmherzige Vorurteile eine erschütternd eindringliche Vorstellung liefert.
Während der ersten Tagen in „Freiheit“ verhält sich Juliette wie eine jener sozialen Außenseiterinnen, die immer nur bei anderen die Schuld für ihre Misere suchen. Ständig schlecht gelaunt, wirkt ihr ganzes Auftreten wie ein unausgesprochener Vorwurf gegen die Schwester, die Eltern, gegen jede und jeden, der ihr Leiden nicht mildert, sie nicht versteht. Dieser subjektive Trotz, mit dem sich die Täterin als Opfer zu verkennen scheint, entspringt einem aus Einsamkeit und Isolation geformten Schutzegoismus. Jérôme Alméras’ Kamera bildet das anfängliche Scheitern von Léas Versuch ab, die Distanz zu ihrer älteren Schwester zu überwinden, indem sie die Geschwister in Nah- und Großaufnahmen voneinander trennt oder in indiskreten Detailbildern Münder, Augen, Gesichtszüge erforscht und dabei den Menschen aus dem Blick verliert. Kristin Scott Thomas hält dieser vergeblichen Suche nach Nähe mit ihrer Darbietung den geheimen Wunsch danach entgegen, wenn sich unter ihrem verhärmten Gesichtsausdruck zaghafte Gefühlsregungen anbahnen und ein verzweifeltes Höflichkeitsgrinsen die Lippen umspielt, das für kurze, unbedachte Augenblicke in ein mädchenhaftes Lächeln umschlägt, jedoch schnell wieder zur Ordnung gerufen wird.
Nur zaghaft löst sich Juliettes Erstarrung. Die beiden Schwestern kommen sich näher. Und auch zu anderen Menschen beginnt Juliette vorsichtig Beziehungen aufzubauen. Zu Léas stummem Schwiegervater setzt sie sich ins Zimmer, weil der keine Fragen stellen kann. Mit einem Freund der Familie flirtet sie, weil dieser keine Fragen stellen möchte. Und mit dem Polizisten, bei dem sie sich einmal in der Woche melden muss, versteht sie sich, weil der keine Fragen mehr zu stellen braucht. Er kennt den Fall. Trotzdem ist er zuvorkommend, erzählt Juliette von seinem Traum, einmal zum Orinoco zu reisen. Juliette nimmt seine Zuneigung an, aber es gelingt ihr noch nicht, den Blick weg von sich auf andere zu richten. Schließlich aber nimmt sie ihrer Schwester gegenüber das erste Mal ein Wort in den Mund, das ihr bis dahin nicht über die Lippen kam: „Danke“. Dieser Moment bedeutet einen Wendepunkt. Keinen jähen, keinen um 180 Grad, aber doch einen merklichen. Die beiden Schwestern fangen wieder an, miteinander zu reden. Als selbst Luc bereit ist, seine Vorbehalte gegenüber der Mutter, die ihren Jungen tötete, zu überwinden, und als auch Juliette immer liebevoller, warmherziger und fröhlicher wirkt, nimmt der Grundwiderspruch des Films nicht etwa ab, sondern noch weiter zu. Immer drängender stellt sich die Frage, wie so eine nette, kluge Frau ihren eigenen kleinen Sohn töten konnte.
Daraus, dass er dieses existenzielle Rätsel lange, zermürbend lange, ungelöst lässt, schöpft der Film seine Kraft. Bis dahin nötigt er den Zuschauer, sein eigenes moralisches Wertesystem zu hinterfragen, drängt ihn an die Grenzen seines Weltbildes. Am Ende erlöst Claudel sein Publikum dann doch von dieser Marter. Zwar nicht, ohne ihm sein barsches Urteil noch einmal als Vorurteil unter die Nase zu reiben. Mit dieser schmerzlichen Einsicht kommt jedoch auch das ethische Gesamtgefüge wieder ins Lot. So hält der großartige Film für sein arg strapaziertes Publikum ein Abschiedsgeschenk bereit, das er sich vielleicht besser gespart hätte.
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