Experimenteller Dokumentarfilm, der auf den Spuren des indischen Soldaten Mall Singh ein unbekanntes Kapitel des Ersten Weltkriegs aufschlägt: Mit der deutsch-osmanischen Djihad-Strategie sollten Muslime in den alliierten Armee zum Aufstand gegen ihre Kolonialherrn ermuntert werden. Die eingehende Untersuchung der historischen Dokumente deckt dabei nicht nur die Verflechtungen von Politik und Öffentlichkeit, Kolonialismus und Wissenschaft auf, sondern entwickelt sich zu einer grundsätzlichen Reflexion über die Repräsentation von Geschichte sowie ihr mitunter überraschendes Nachleben. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
The Halfmoon Files
- | Deutschland 2007 | 87 Minuten
Regie: Philip Scheffner
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2007
- Produktionsfirma
- Pong
- Regie
- Philip Scheffner
- Buch
- Philip Scheffner
- Kamera
- Philip Scheffner · Astrid Marschall
- Schnitt
- Philip Scheffner
Diskussion
Eine Schellackplatte in einem preußischen Lautarchiv: Mehr ist von dem Inder Mall Singh nicht geblieben, der im Ersten Weltkrieg in deutsche Gefangenschaft geriet und nördlich von Berlin im „Halbmond Lager“ interniert war. Dorthin verfrachtete das Deutsche Reich gefangene „Kolonialsoldaten“: Muslime im Dienst der Alliierten, die durch eine auch religiös zuvorkommende Behandlung mental „umgedreht“ werden sollten, um später den Aufstand gegen die englischen oder französischen Kolonialherren anzustacheln. Ein nennenswerter Erfolg war der unter osmanischer Anleitung entstandenen „Djihad“-Strategie des Deutschen Reichs nicht beschieden; dafür entdeckten Wissenschafter, Anthropologen, Ethnologen und Sprachforscher den exotischen Menschenzoo und stürzten sich mit penibler Akkuratesse, aber kaum verhohlenem Rassismus auf seine Inventarisierung. U.a. wurden Tonaufnahmen wie die von Mall Singh gemacht, den man im nordindischen Dialekt von einem Mann erzählen hört, der sich nach seiner Heimat, nach Butter und Milch sehnt und den Frieden herbeiwünscht, weil er in der Fremde nicht mehr lange überleben kann.
Die Worte aus dem Grammophon waren allerdings nicht Teil eines Interviews über Lebensumstände oder Empfindungen des Kriegsgefangenen Mall Singh, sondern wissenschaftliches Material zur Erforschung von Syntax und Lautbildung. So jedenfalls verstanden es seine Produzenten, besonders Wilhelm Doegen, der bis zu seinem Tod schwärmte, auf diese Weise nahezu alle Sprachen der Welt dokumentiert zu haben. 90 Jahre später lauscht Philip Scheffner mit seinem Dokumentarfilm dieser kurzen als Tondokument erhaltenen Rede und macht sie zum Ausgangspunkt einer komplexen, höchst sinnlichen Recherche, in der es zunächst tatsächlich um Mall Singh zu gehen scheint: Wer war dieser Mann, der 1892 im Dorf Ranasukhi im Distrikt Ferozpur/Punjab geboren wurde? Lässt sich über ihn noch etwas in Erfahrung bringen? Schon der Antrag auf eine Drehgenehmigung in Indien stößt auf Widerstände. Auch eine Mitarbeiterin in Indien kommt mit ihren Nachforschungen nur schleppend voran; Mall Singh und das Schicksal, das ihn ins kalte Deutschland verschlug, scheinen im Dunkel der Geschichte entschwunden. Doch der Film weiß aus dieser Not eine Tugend zu machen, indem er zunächst das „Material“ der Wissenschaftler aus dem „Halbmond Lager“ einer raffinierten Detailbefragung unterzieht, wobei Scheffners künstlerische Herkunft von der experimentellen „dogfilm“-Gruppe das Vorgehen bestimmt. So bleibt die Leinwand dunkel, wenn die Stimmen der Gefangenen erklingen, da keine Bildaufnahmen von den Sprechenden existieren; zitierte Dokumente werden in ihrer ursprünglichen Länge verwendet, was im Extremfall einen vierminütigen Stummfilm beinhaltet, bei dessen Wiedergabe auf jede akkustische Interpunktion verzichtet wird. Diese Mischung aus Purismus und Freiheit prägt die Dramaturgie des kurzweiligen, dabei inhaltlich zunehmend vielschichtigeren Films. Die zunächst willkürlich erscheinenden Analysen unterschiedlichster Phänomene arbeiten untergründig daran, die mediale Struktur der Verflechtungen von Politik und Öffentlichkeit, Kolonialismus und deutscher Geschichte, Wissenschaft und Entertainment sichtbar zu machen. Prominentes Beispiel ist die „Enttarnung“ der berühmten Kriegsrede Kaiser Wilhelms II. ans deutsche Volk im August 1914: das angeblich authentische Tondokument ist kein Live-Mitschnitt, sondern entstand 1918 und wurde mehrmals aufgezeichnet, bis der preußische König den richtigen Tonfall für die Nachwelt gefunden hatte. Weniger demonstrativ, dafür in Tuchfühlung mit der Geschichte des Rassismus: eine Serie von Gefangenenporträts, die aus purer Freude am Fotografieren entstand. 1916 erschienen die Bilder, jeweils mit den Namen der Abgebildeten, als „Unsere Feinde“ in Buchform. Bei der Neuauflage einige Jahre später waren die Namen komplett getilgt und durch Nummern ersetzt; zudem wurden rassistisch gefärbte Volks- und Gruppenzugehörigkeiten herausgestellt.
Das eigentliche Ziel der „Material“-Betrachtungen sind keine mentalitätsgeschichtlichen Rekonstruktionen; vielmehr geht es um die Einsicht, dass die angeblich objektiven Dokumente auf Ton- oder Bildträgern im Kern fiktional sind: „Erfindungen“, in die zahllose Annahmen, gesellschaftlicher Überzeugungen und Interessen eingeflossen sind. Auf ihnen fußen fundamentale Diskurse, die jedoch ebenso gut dazu dienen, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Auch deshalb lautet der Film im Untertitel „A Ghost Story...“, wobei die Auslassungszeichen nicht nur den fragmentarischen Erzählstil, sondern auch ein selbstreflexives Wissen um diesen Zusammenhang andeuten. Die Rede von Geistern verdichtet sich sogar zu einer filmischen Metapher, wenn Mall Singh im letzten Drittel wieder stärker in den Mittelpunkt rückt und durch Scheffners Nachforschungen ein Nachleben erfährt: Sowohl der Vize-Konsul als auch die im Punjab erscheinende Zeitung „Tribune“ spinnen die Geschichte des indischen Kolonialsoldaten auf ihre sehr eigene Weise fort. Das ist in beiden Fälle so spektakulär, dass sich die sperrige „Halbmond“-Akte beinahe doch wie von selbst erklärt.
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