Oliver Twist (2005)

Drama | Großbritannien/Frankreich/Tschechien/Italien 2005 | 130 Minuten

Regie: Roman Polanski

Das zehnjährige Waisenkind Oliver Twist gerät im viktorianischen London unter den Einfluss hartherziger Fürsorger und in die Netze eines alten Trödlers, der Kinder zu Taschendieben erzieht. Im Gegensatz zu früheren Verfilmungen des Romans von Charles Dickens konzentriert sich Polanskis Adaption auf eine unmenschliche Gesellschaft, in der selbst so ungleiche Figuren wie der elternlose Oliver und der jüdische Trödler Fagin zu intensiven Sinnbildern im Kampf ums Überleben werden. Dabei verdichtet sich der Film zunehmend zu einem Sozialdrama unverkennbar humanistischen Anspruchs. - Ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
OLIVER TWIST
Produktionsland
Großbritannien/Frankreich/Tschechien/Italien
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Runteam II/ETIC/Medusa Prod./R.P. Prod.
Regie
Roman Polanski
Buch
Ronald Harwood
Kamera
Pawel Edelman
Musik
Rachel Portman
Schnitt
Hervé de Luze
Darsteller
Ben Kingsley (Fagin) · Barney Clark (Oliver Twist) · Leanne Rowe (Nancy) · Mark Strong (Toby Crackit) · Jamie Foreman (Bill Sykes)
Länge
130 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Universum (1:2.35/16:9/Dolby Digital 5.1)
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Diskussion
Braucht die Welt eine weitere Adaption von „Oliver Twist“, nachdem Charles Dickens’ Buch bereits über 20 mal für Leinwand und Bildschirm verfilmt wurde? Wer sich noch einmal David Leans „Oliver Twist“ (fd 234) aus dem Jahr 1948 ansieht, wird wahrscheinlich zu der Meinung kommen, heutige Filmemacher sollten lieber die Finger von diesem Stoff lassen. Leans an expressionistischen Vorbildern orientierter Stilwille und die Ausdruckskraft seiner Figuren lassen den Film als zeitlos erscheinen. Das gilt trotz der berechtigten Vorbehalte, die gegen die Darstellung des Juden Fagin durch Alec Guinness vorgebracht wurden. Leans Historisierung, die sich erkennbar an George Cruikshanks Illustrationen für die erste Buchauflage anlehnte, bewies wenige Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches und der Befreiung der Konzentrationslager keinerlei Gespür für die Empfindlichkeiten, die dem Film damals heftige Proteste einbrachten. Auch heute noch wirkt diese Karikatur peinlich und belastend. Carol Reed, der in seinem Musical „Oliver“ (1968, fd 15 887) statt dessen mit unverkennbar schwulen Stereotypen jonglierte, scheiterte ebenfalls an der Figur. Aber ist das Grund genug, die allseits bekannte Story vom schweren Schicksal eines Waisenknaben im viktorianischen England noch einmal neu zu erzählen? Roman Polanskis Film scheint darauf zunächst eine negative Antwort zu geben. Die Beschreibung von Olivers Kindheit im Waisenhaus und bei einem Leichenbestatter entfernt sich kaum von den Vorbildern; die Erzählweise ist konventionell, die Figuren gewinnen nicht das Profil der einprägsamen Charaktere in David Leans Film. Sobald der Film jedoch die Hermetik der Anfangsszenen hinter sich lässt und den kleinen verstörten Oliver in den verfilzten Straßen von London aussetzt, verwandelt sich diese neue Adaption in ein Sozialdrama unverkennbar humanistischen Anspruchs. Lean beließ den Konventionen der Zeit, die Dickens in drastischen, aber auch sentimentalen Bildern beschrieben hat, die rosige Aussicht auf Besserung. Das Haus des reichen Wohltäters Mr. Brownlow erstrahlt bei ihm in gleißendem Weiß, als unverkennbares Symbol dafür, dass alles ein gutes Ende nehmen werde. Und der Mann selbst ist ganz Ausdruck der Überzeugung, dass auch in einer Welt der sozialen Ungerechtigkeit und Unterdrückung Güte und Menschlichkeit letztendlich triumphieren werden. Davon kann in Polanskis Film keine Rede mehr sein. Das hilflose Ausgeliefertsein des elternlosen Kindes in einer Umgebung, deren inhumane Konditionen fortzeugend nichts als Inhumanität gebären, verdichtet sich allmählich zu einem Sittengemälde, das – wie so viele von Polanskis Filmen – in einer Darstellung des moralischen Niedergangs und der Abwesenheit menschlicher Anteilnahme gipfelt, die bald nicht mehr allein als Sinnbild der geschilderten Zeitperiode interpretiert werden kann. Als in diesem von Hässlichkeit und Selbstsucht geprägten Umfeld, dessen grünbraune Farbgebung unweigerlich die Straßenszenen aus Polanskis „Der Pianist“ (fd 35 643) in Erinnerung ruft, der Trödler Fagin mit seiner zum Taschendiebstahl angelernten Kinderschar auftaucht, ist der Boden bereitet, der auch den abstoßenden, von allen verachteten Juden mehr als Opfer einer mitleidlosen Gesellschaft erscheinen lässt denn als Urheber allen Übels. Ohne sich allzu weit von Dickens’ Charakterisierung zu entfernen, ist Polanskis Fagin der Mensch am untersten Ende der Sozialkette, dessen kriminelles Tun einen Anflug von Rechtfertigung dadurch erfährt, dass er weiß, im Alter unweigerlich allein gelassen zu sein. Mehr als der unirdisch gütige Mr. Brownlow, der bei Polanski eher wie ein Deus ex machina wirkt, sind Fagin und die Dirne Nancy auf ihre Weise um Olivers Wohlergehen bemüht. Das verleiht der Trostlosigkeit der Umstände eine ganz merkwürdige Ambivalenz, die nur aus Polanskis eigener Biografie erklärbar ist. Geboren im Jahr 1933, musste auch Polanski einen Teil seiner Kindheit unter härtesten Bedingungen verbringen. Seine Eltern wurden in Konzentrationslager abtransportiert. Die Mutter starb in Auschwitz. Das Schlimmste, sagt Polanski in einem Interview, sei nicht ein hartes Bett oder Hunger, es sei vielmehr, ohne Eltern aufwachsen zu müssen. Auch er sei kilometerweit ohne Strümpfe und mit blutenden Füßen gelaufen, nachdem er aus dem Krakauer Ghetto entkommen war. „Oliver Twist“ ist weniger ein Zufall in Polanskis Karriere, als es zunächst scheinen mag, sondern nach dem fast autobiografischen „Der Pianist“ eine nahezu unausweichliche, konsequente Verbindung von Realität und Fiktion: Polanski erkennt sich selbst in Oliver. Als er gesagt hat, er wolle den Film für seine Kinder machen, da waren es höchstwahrscheinlich die Parallelen zwischen Dickens’ Hauptfigur und ihm selbst, die ihn dazu veranlasst haben. Beide haben eine elternlose Kindheit unter unmenschlichen Bedingungen überlebt. Diese Hoffnung auf ein Überleben ist es, die Polanskis Blick auf Dickens’ Story und deren Figuren geprägt hat. Deshalb bringt er kein Mitleid auf für den brutalen Bill Sikes, der Olivers schlimmster Feind ist, aber viel Nachsicht für Fagin, der den Jungen immerhin vor größerem Unheil in den Straßen von London bewahrt hat. So unterscheidet sich denn auch die Schlusssequenz, in der Oliver den zum Tod durch den Strang verurteilten Fagin im Gefängnis besucht, sowohl von Charles Dickens als auch von David Leans beschönigendem Ende. Der Junge bedankt sich bei Fagin: „Sie waren gut zu mir.“ Ungleiche Kumpane im bitteren Kampf ums Überleben.
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