- | Deutschland 2001/02 | 107 Minuten

Regie: Winfried Bonengel

Zwei Jugendfreunde in der DDR träumen von Flucht beziehungsweise Aussiedlung und geraten in Haft. Im Gefängnis schließt sich einer der beiden einer Gruppe radikaler Altnazis an und steigt nach der Wende zum fanatischen Neonazi-Führer auf. Als bei einem Überfall auf ein von Autonomen bewohntes Haus ein Mädchen zu Tode kommt, zerbricht die längst nur noch oberflächliche Freundschaft. Spannend erzählter Spielfilm, der zur kritischen Auseinandersetzung mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart anregt. Verstörend sind sein Gewaltpotenzial sowie einige schauspielerische und dramaturgische Unzulänglichkeiten; auch die Motivationen der Protagonisten sind nicht immer überzeugend entwickelt. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2001/02
Produktionsfirma
Next Film/Studiocanal/MBP
Regie
Winfried Bonengel
Buch
Winfried Bonengel · Ingo Hasselbach · Douglas Graham
Kamera
Frank Barbian
Musik
Loek Dikker
Schnitt
Monika Schindler
Darsteller
Christian Blümel (Heiko) · Aaron Hildebrand (Tommy) · Jule Flierl (Beate) · Luci van Org (Elisabeth Degner) · Harry Baer (Friedhelm Kaltenbach)
Länge
107 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Verleih DVD
Universum
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Veröffentlicht am
25.11.2002 - 13:40:59
Diskussion
Fast zehn Jahre ist es her, dass das Politikmagazin „Akut“ des Fernsehsenders SAT 1 am 15. März 1993 einen kurzen Beitrag über Ingo Hasselbachs Ausstieg aus der rechten Szene sendete. In diesem Bericht hatte der Gründer und ehemalige Parteivorsitzende der neofaschistischen „Nationalen Alternative“ (NA), die 1990 in der Weitlingstraße in Ostberlin ihren Sitz hatte, seinen Bruch mit der Neonazi-Szene erklärt. Zustande gekommen war der Beitrag auf Vermittlung Bonengels, der Hasselbach in der im Dezember 1992 ausgestrahlten Fernsehdokumentation „Wir sind wieder da“ noch als einen der führenden Köpfe der rechtsradikalen Szene in Ostdeutschland porträtiert hatte. Dass die Bekanntschaft mit Bonengel Hasselbachs Ausstieg aus der Szene beförderte, ist in dem autobiografischen Buch „Die Abrechnung – Ein Neonazi steigt aus“ nachzulesen, das Hasselbach gemeinsam mit Bonengel 1993 veröffentlichte. In diesem Buch, das in Amerika später unter dem Titel „Führer Ex“ verlegt wurde, schildert der Autor seine Kindheit und Jugend in der DDR, seine Flucht in die Bundesrepublik Deutschland und seine Entwicklung vom Hippie zum Neonazi; er berichtet von Treffen mit „Größen“ der Szene wie Michael Kühnen, vom Leben in der Weitlingstraße, von Straßenschlachten und schließlich von seinen Beweggründen für den Ausstieg. Zehn Jahre nach „Wir sind wieder da“ entstand mit „Führer Ex“ jetzt erneut ein Film aus der Zusammenarbeit von Hasselbach und Bonengel („Beruf Neonazi“, fd 30 567). Doch inzwischen hat Hasselbach die Seiten gewechselt, steht nicht mehr vor der Kamera, sondern trägt durch seine Mitarbeit am Drehbuch zur Entstehung des Films bei. Bonengels erster Spielfilm erzählt die Geschichte der Freunde Heiko und Tommy. Mitte der 80er-Jahre in der DDR gefallen sie sich in ihrer Rolle als jugendliche Rebellen, haben keine Lust auf Arbeit und Anpassung und auch keinen Bock mehr auf die DDR. Vor allem der rücksichtslose Tommy träumt von einer Flucht nach Australien. Als sie eines Nachts aus einer Bierlaune heraus in ein Fußballstadion klettern, verbrennt Tommy eine DDR-Flagge und wird prompt von der Volkspolizei geschnappt. Während Tommy einsitzt, lernt der schüchterne und nachdenkliche Heiko die Punkerin Beate kennen und verliebt sich in sie. Als Tommy entlassen wird, möchte Heiko von einer Flucht zunächst nichts mehr wissen; erst als Beate ihn ausgerechnet mit Tommy betrügt, lässt sich Heiko doch darauf ein. Die Flucht scheitert, beide werden verhaftet. Im Gefängnis droht der sensible Heiko, am grausamen Alltag zu zerbrechen. Er wird vergewaltigt und landet in Isolationshaft. Verzweifelt schließt er sich Tommys neuen Bekannten an, einer von einem Altnazi geführten Gruppe radikaler Faschisten. Während Heiko sich der Gruppe zuwendet, beginnt Tommy allmählich das Interesse an ihr zu verlieren. Wieder träumt er von der Flucht, und diesmal gelingt sie ihm. Heiko hat weniger Glück und muss zurückbleiben. Bald darauf fällt die Mauer, und wenige Monate später besucht Tommy Heiko in der Weitlingstraße. Heiko ist inzwischen ein fanatischer Neonazi-Führer geworden. Die Rollen in ihrer Freundschaft haben sich verkehrt: Nun ist Tommy der Gemäßigtere und Heiko der gefährliche Anstifter. Tommy weiß mit der ausländerfeindlichen Ideologie der Neonazis letztlich ebenso wenig anzufangen wie mit den Prinzipien von Zucht und Ordnung, die in der Weitlingstraße herrschen. Im Grunde ist er der Alte geblieben; noch immer hat er keinen Bock auf Arbeit, noch immer will er sich nicht anpassen, und noch immer träumt er davon, mit Heiko nach Australien abzuhauen. Als bei einem Überfall auf ein von Autonomen bewohntes Haus ein Mädchen zu Tode geprügelt wird, will Tommy nichts mehr mit den Neonazis um Heiko zu tun haben. Doch Heiko hat nicht vor, ihn so einfach gehen zu lassen. Trotz der gesellschaftspolitischen Relevanz der Geschichte, gestaltete sich die Finanzierung von „Führer Ex“ ausgesprochen problematisch. Fernsehanstalten lehnten den Film aufgrund seiner schonungslosen Gewaltdarstellung als wenig sendetauglich ab und die meisten Förderungen zeigten kein Interesse. Erst durch die Förderzusage der Mitteldeutschen Medienförderung und die Zusammenarbeit mit der Studiocanal Produktion erreichten die Produzenten weitere Förderungen durch die FFA und das Filmboard Berlin Brandenburg. Wie sehr Inhalte, Wahrheit und Moral unter der Maßgabe des Erfolges im Mediengeschäft leiden, hatte Hasselbach bereits während seiner Zeit als Führer der NA erfahren, als er sich und die neofaschistische Organisation zu einem erheblichen Teil von Honoraren für Interviews finanzierte und ihm sogar Geld dafür angeboten wurde, vor laufender Kamera eine Wehrsportübung zu inszenieren. Umso mehr war Hasselbach jetzt bemüht, „Führer Ex“ ein hohes Maß an Authentizität zu verleihen. Obwohl dies unter Bonengels Regie über weite Strecken gelungen ist, basiert die Geschichte zum größten Teil auf Fiktionen und nicht auf wahren Begebenheiten, wie das von einer dem Film vorangestellten Texteinblendung suggeriert wird. „Führer Ex“ ist keineswegs die Verfilmung von Hasselbachs „Abrechnung“, sondern erzählt eine fiktive Geschichte, in die freilich zahlreiche historische Begebenheiten und Persönlichkeiten miteingewoben sind. Als Erzählung entwickelt sich „Führer Ex“ zu einer Art Gegenmodell zu Tony Kayes „American History X“ (fd 33 545). Während der Protagonist dort durch seinen Gefängnisaufenthalt geläutert wird, sind es erst die Demütigungen des Strafvollzuges, die Heiko zum Neonazi werden lassen. Im Gegensatz zu den irreführenden satirischen Erwartungen, die der Filmtitel wecken mag, versucht „Führer Ex“ mit mahnender Ernsthaftigkeit herauszuarbeiten, wie aus einem harmlosen Jungen ein gefährlicher Neonazi werden kann. Hin und wieder erscheint die Handlung etwas vereinfachend. Die Charaktere wirken leicht typisiert, und die Darsteller verkünsteln sich zu stark am Charakteristischen ihrer Rollen. Auch klingen die Dialoge mitunter ein wenig wie einem Lexikon der Jugendsprache entnommen. Dennoch bleibt das Geschehen insgesamt stimmig. Ausgerechnet bei der Darstellung von Heikos persönlicher Wandlung aber hat der Film seine schwächsten Momente: Die Veränderung selbst wird zur Leerstelle. Nach einem Schnitt, mit dem mehrere Monate übersprungen werden, erscheint der ehemals umsichtige Heiko unvermittelt als engstirniger Fanatiker. Christian Blümel, der den sensiblen Heiko überzeugend verkörpert, ist mit der Darstellung des geifernden Jungführers sichtlich überfordert, und der direkte Ursache-Wirkung-Zusammenhang, den der Film konstruiert, wenn sich in einer Szene Heikos Freundin von ihm abwendet und dieser in der nächsten Szene die Würstchenbude eines Türken in die Luft jagt, verrät allzu sehr seine didaktischen Absichten. Trotz solcher schauspielerischen wie dramaturgischen Unzulänglichkeiten bleibt „Führer Ex“ ein außergewöhnlicher und spannend erzählter Spielfilm über Jugendliche, die DDR, Freundschaft und Neonazis. Aufwühlend und ungeschönt liefert er eine engagierte Vorlage zur kritischen Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln deutscher Vergangenheit und Gegenwart.
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