Ein Mensch wie Dieter - Golzower

Dokumentarfilm | Deutschland 1961-1999 | 121 Minuten

Regie: Barbara Junge

Im 16. Golzow-Film, wiederum mit Aufnahmen aus den Jahren zwischen 1961 und 1998, stellen Barbara und Winfried Junge den Zimmermann Dieter vor, der schon als Kind von Reisen in die Ferne träumte. Diese DDR-typische Sehnsucht avanciert, in ganz unterschiedlichen Variationen, zum gedanklichen Zentrum des Dokumentarfilms. Spannend zu beobachten ist zudem, wie sich der pädagogisch inspirierte Ansatz der Regie immer mehr auflöst und in eine souveräne Partnerschaft mit der dargestellten Figur und dem Zuschauer mündet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1961-1999
Produktionsfirma
á jour/DEFA-Stiftung/ORB/SR/SWR
Regie
Barbara Junge · Winfried Junge
Buch
Barbara Junge · Winfried Junge
Kamera
Hans-Eberhard Leupold · Harald Klix · Hans Dumke · Walfried Labuszewski
Musik
Gerhard Rosenfeld
Schnitt
Barbara Junge
Länge
121 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Man kann schon fast die Uhr danach stellen: Jedes Jahr im Frühling präsentieren Barbara und Winfried Junge ein neues Opus ihrer Golzow-Serie. Über die „längste Langzeitdokumentation der Filmgeschichte“ ist vieles gesagt und geschrieben worden; zum Thema und zur Stilistik der Junges lässt sich auch diesmal nichts wesentlich Neues hinzufügen. Allerdings hält auch der 16. Film für denjenigen, der gewillt ist, seine Augen zu öffnen, viele Einblicke ins ganz normale deutsche Alltagsleben bereit, die sonst von den Medien kaum ermöglicht werden. Diesmal heißt der Held Dieter und ist Zimmermann von Beruf. Er war der älteste der Klasse, die Junge von der Schuleinführung an mit der Kamera begleitet. Dieter musste das erste Jahr zwei Mal absolvieren; die wunderbar beobachtende Kamera Hans-Eberhard Leupolds lässt ahnen warum: Während des Unterrichts interessierte er sich für alles, nur eben nicht für den Lehrstoff. Er träumte, langweilte sich, spielte, das „Gesicht ein offenes Buch, in dem man hervorragend lesen konnte“, wie es im Kommentar heißt. Diese Kinderbilder sind die schönsten des Films: zärtliche Annäherungen an einen offenen, freien Charakter. Aus der Kindheit stammt auch jene viel beachtete und zitierte Sequenz, in der Dieter vor dem Fernsehgerät sitzt und einen Bericht über den Krieg in Vietnam sieht: brennende Häuser, weinende Kinder, Hubschrauber. Sucht man nach optischen Belegen für die Wirkung solcher Motive auf die kindliche Psyche, ja auf die Seele eines empfindsamen Menschen überhaupt, kann man um diese nun schon klassischen Aufnahmen keinen Bogen machen.

Bereits damals, als Kind, beschwor Dieter mit leuchtenden Augen seine größte Sehnsucht: Er wolle die Welt sehen, zum Beispiel nach Brasilien fahren, um „viele interessante Vögel“ zu entdecken. Immer wieder kommen die Junges auf diesen Traum zurück; er avanciert zu einer Art gedanklichem Zentrum und trägt dazu bei, dass sich die vorgefundene Realität zur Metapher bündelt. Das Thema des Reisens, ein Reizthema in der DDR, kehrt in unterschiedlichen Variationen wieder: als Fernweh und Abenteuerlust, Ausbruchsmöglichkeit und Flucht, Reminiszenz und zeitweise geparktes Ideal. Seine erste greifbare Chance, die DDR weit hinter sich zu lassen, hatte Dieter unmittelbar nach der Armeezeit. Damals bewarb er sich als Matrose bei der Handelsflotte und als Pioniertaucher zum Minenräumen in Vietnam. Beides klappte nicht. Mit 31 zog es ihn aus der Enge des Baubetriebs und der Ehe erneut in die Ferne. Er wurde „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik, baute mit an der Frankfurter Startbahn West. Dann durfte er nach Libyen. Heute, so meint er in den letzten Szenen, sind damit die schönsten Erinnerungen verbunden. Aber kommt ein umtriebiger Mensch wie Dieter, der nun sogar ein Haus sein Eigen nennt, wirklich zur Ruhe? Oder sind neue Aufbrüche nicht durchaus möglich?

Wie alle „Golzow“-Teile bietet auch dieser Gelegenheit, über die Korrespondenz von Kontinuität und Wandel zu reflektieren. Kontinuierlich ist Dieters Unrast; gewandelt hat sich, um nur das Sichtbarste zu benennen, sein Äußeres, vom schmächtigen Jungen zum stattlichen Zwei-Zentner-Mann. Aber nicht nur der Held vor der Kamera war Wandlungen unterworfen, sondern auch der Regisseur dahinter. In den Szenen aus früheren Jahren fällt auch diesmal Junges oft kritisierter Hang zur Didaktik auf. Er betrachtete „seine“ Golzower ein bisschen wie Schüler, die er mit auf den „rechten Weg“ zu bringen versuchte. In einer klug montierten Passage zeigt Junge, was aus diesem, seinem Ideal geworden ist. Die Kamera beobachtet Dieter beim Abschiedsabend in Libyen. Man schmettert, in Anwesenheit indischer Kollegen, deutsche Trinklieder. Dann blendet der Film zwei Jahrzehnte zurück auf den Musikunterricht in Golzow. Hier hatte Dieter ein Lied ganz anderer Couleur gesungen: Brechts Kinderhymne „Anmut sparet nicht noch Mühe“. Ein bisschen Trauer schwingt mit, wenn dem gegrölten „O Susanna“ der Vers folgt: „... dass die Völker nicht erbleichen wie vor einer Räuberin“. Aber die Traurigkeit mischt sich zugleich mit Abgeklärtheit. Die Junges heben nicht mehr den Zeigefinger; sie zeigen das Leben, wie es eben ist. Während der DEFA-Jahre folgte der Stab auch aktuellen Aufträgen des Studios. Als man an jenem Tag zu Dreharbeiten fuhr, an dem DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn ins All flog, befragte man weisungsgemäß auch Dieters Familie nach ihrer Meinung dazu. Die Antworten gerieten hilflos; was hätte auch zu Protokoll gegeben werden sollen außer dem obligatorischen Stolz auf „einen von uns“? Heute steht Junge diesem Interview selbstironisch gegenüber und verweist auf das weggenuschelte „Nun ist aber genug“ von Dieters Frau Anita. Später, nach der deutschen Vereinigung, wenn Dieter und Anita nach Österreich reisen, um an einem Training für das Verkaufspersonal einer amerikanischen Firma teilzunehmen, verkneifen sich die Junges jede besserwisserische Bemerkung. Zwar schwenkt die Kamera auf das Buch in Dieters Hand, „Denke nach und werde reich“, aber jeder soll sich seinen eigenen Reim darauf machen. Längst sind die Kinder von Golzow nicht mehr „Erziehungsobjekte“, sondern ebenbürtige Partner. Und ein Gleiches trifft auf die Zuschauer zu.

Hoch zu loben ist, dass der Film nie in die Nähe jenes „investigativen“ Journalismus gerät, der menschliche Schicksale um der Quote willen hemmungslos entblättert. Dass die Ehe von Dieter und Anita nicht immer glücklich war, und wie sehr die junge Frau unter der Abwesenheit ihres Mannes litt, lässt sich auf ihrem Gesicht ablesen. Aber was die beiden nicht sagen wollten, sagen auch die Junges nicht. Dennoch sieht man mehr, als man weiß - ein Kunststück.
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