Vaglietti zum Dritten

Dokumentarfilm | Schweiz 1999 | 90 Minuten

Regie: Alfredo Knuchel

Dokumentarfilm über einen ehemaligen Schweizer Amateurboxmeister im Superschwergewicht, der nach zwei Titelgewinnen durch Doping und Drogen ins Abseits geriet, sechs Jahre später aber sein sportliches wie soziales Comeback versuchte. Fragmentarisches Porträt eines Gescheiterten, das Widersprüche und Brüche seiner wenig medienkonformen Hauptfigur nicht kaschiert. Um der Authentizität willen nimmt er eine gewisse filmische Sprödigkeit in Kauf. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
VAGLIETTI ZUM DRITTEN
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Alfredo Knuchel Prod.
Regie
Alfredo Knuchel
Buch
Alfredo Knuchel
Kamera
Norbert Wiedmer · Peter Guyer
Musik
Bruno Spoerri
Schnitt
Kathrin Plüss
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Dokumentarische Filmemacher haben sich einem schwierigen Genre verschrieben, weil der Versuch, Wirklichkeit „abzubilden“, nicht nur erkenntnistheoretische Fragen impliziert, sondern zu einem beträchtlichen Teil auch von Faktoren abhängt, die sich dem „inszenatorischen“ Zugriff entziehen. Ihre Arbeit gleicht einer Reise ins Offene, die viel Geduld verlangt und von der Hoffnung getragen ist, dass sich dem Auge der Kamera - und dem Verständnis des Dokumentaristen - eine relevante „Wahrheit“ enthüllt. Was diese Art von Welterkundung zu leisten vermag, haben die Schweizer Alfredo Knuchel und sein Kameramann Norbert Wiedmer in der Langzeitstudie „Besser und Besser“ (1996) eindrucksvoll demonstriert. Auch in ihrem folgenden Projekt „Vaglietti zum Dritten“ nähern sie sich einem Eidgenossen, der aus den Bahnen der „Normalität“ herausgefallen ist: Stefano Vaglietti, der 1989 und 1991 Schweizer Meister der Amateurboxer im Superschwergewicht wurde. Nach dem zweiten Titelgewinn geriet der Athlet ins Trudeln: Doping und harte Drogen beschleunigten seinen Abstieg, der den Außenseiter dort landen ließ, wo er herkam: im sozialen Abseits.

Als ihn Knuchel im Sommer 1997 vor die Kamera holt, ist Vaglietti zwar seit mehreren Jahre „clean“ und auch dabei, sein Comeback vorzubereiten. Doch ob er zu den Wettkämpfen überhaupt zugelassen wird, hängt unter anderem vom Fortgang eines Prozesses ab, in dem er wegen Vergewaltigung und gefährlicher Körperverletzung vor Gericht steht. Was es mit diesen Anschuldigungen seiner ehemaligen Lebensgefährtin auf sich hat, bleibt wie vieles andere in der Schwebe, weil Knuchel primär am Porträt eines Gescheiterten interessiert ist, der zusammen mit seiner neuen Freundin versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Nicht die Rekonstruktion des Niedergangs, sondern die mühsamen, oft auch scheiterenden Anstrengungen, wieder Anschluss zu finden, bilden das filmische Zentrum einer Annäherung, die nur zögernd mit der Biografie und dem Umfeld Vagliettis bekannt macht. Dass sich darin die Geschichte eines Geschlagenen abzuzeichnen beginnt, eines Underdogs aus einem randständigen Elternhaus, dessen Hinwendung zum Kampfsport sich als Reaktion auf den gewalttätigen Vater verstehen lässt, vermittelt Knuchel fast nebenbei, weil die sperrige Figur des Boxers mehr Aufmerksamkeit als in vergleichbaren Arbeiten verlangt: zu widersprüchlich und verworren sind Vagliettis Äußerungen und emotionale Wechselbäder, als dass sich ein fortschreitend deutlicher konturiertes Bild seiner Persönlichkeit ergeben würde. Wie der Familienvater in „Besser und Besser“ ist Vaglietti ein Mensch, dem es nicht leicht fällt, zwischen seinen Wünschen und der Wirklichkeit zu unterscheiden. Sein ausgeprägter Sinn für Selbstironie relativiert zwar manche illusionäre Anwandlung und lässt ihn auch die beiden schweren Niederlagen wegstecken, in die der Comeback-Versuch mündet; doch bleibt die Differenz zwischen Vagliettis eigener Wahrnehmung und der seiner Umwelt beträchtlich. Indem sich Knuchel auf diese wenig medienkonforme Persönlichkeit einlässt, der man mit glatten Sätzen oder Bildern nicht gerecht werden kann, zugleich aber die Brüche und retardierenden Momente nicht durch den Schnitt oder eine versierte Rahmung kaschiert, wagt er sich aufs Terrain des Fragmentarischen, das um der Authentizität willen eine gewisse Sprödigkeit in Kauf nimmt. Der „dünne“ Titelsong von Pol Brennan „I will fly again, I will shine again“ sagt bereits alles über die filmische Dramaturgie, die dem Porträtierten mehr Respekt zollt als den üblichen Zwängen des Mediums. Zu Recht beharrt das Bild, das der Film von Vaglietti zeichnet, auf seinen Unschärfen und Trübungen, weil es ihm weder um eine „Story“ noch um einen juristisch oder anderweitig verwertbaren Sachverhalt geht, sondern um einen Menschen und dessen Leben: Hier wie dort muss ständig vieles revidiert oder umgeschrieben werden, weil die Vergangenheit nicht nur Faktum, sondern auch das Ergebnis einer interpretativen Deutung ist.
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