Nach „Dark Tales“ mit Kurzfilmen aus Neuseeland und der internationalen Animationsfilmsammlung „Tricky Tales“ kommt nun ein weiteres Programm aus dem reichhaltigen Fundus der Hamburger Kurzfilmagentur ins Kino. Hinter dem Titel „You’ll Never Walk Alone“ verbergen sich drei mittellange Arbeiten, also Filme, die es üblicherweise bei der Kinoauswertung noch schwerer haben als fünf- bis zehnminütige Produktionen – letztere gelangen wenigstens hin und wieder als Vorprogramm zum Einsatz. Mit der vorliegenden Kollektion bietet sich die seltene Gelegenheit, qualitativ in jeder Hinsicht hochwertige Filme zu Gesicht zu bekommen, die sonst fast ausschließlich ein Festival-Dasein fristen und damit einem recht kleinen Zuschauerkreis vorbehalten bleiben. Schon dieser Umstand macht das Hamburger Unterfangen zur Pioniertat.„The Life of Reilly“ führt die wohlbehütete Kindheit John Reillys vor: Von der Wiege an unternehmen seine Eltern alles Erdenkliche, um ihn vor den Gefahren des Lebens zu bewahren. Das hat zur Folge, daß eine ständig wachsende Schar von Erwachsenen jeden seiner Schritte begleitet. Ob in der Kirche, beim Arztbesuch, in der Schule oder auf dem Fußballplatz – immer mehr von Fürsorge besessene Zeitgenossen werden zu seinen Wegbegleitern. Endlich der Pubertät entwachsen, gelingt es John wider Erwarten, eine junge Frau kennenzulernen. Als er nach der Hochzeit sein Schlafzimmer betritt, befindet sich dort bereits die erwartungsfrohe Runde seiner Förderer. Endlich regt sich in ihm Widerstand gegen diese Entmündigung. Mit umgekehrten Vorzeichen, aber gleichem Effekt nimmt sich „35 Aside“ einer Kindheit in Irland an. Philip Maguire wächst ohne den im Gefängnis sitzenden Vater auf und leidet unter Schwester, Mutter und Großmutter. Mit der Einschulung beginnt sein endgültiges Martyrium: nicht nur, daß ihm die Großmutter einen riesigen, mit Teddybären verzierten Schulranzen aufzwingt; er vermag sich auch in keiner Weise in die Schulklasse zu integrieren. Alle anderen Kinder lieben Fußball – Philip aber bastelt lieber an filigranen Flugmodellen. Als klassischer Außenseiter wird er regelmäßig zum Objekt kollektiver Demütigungen. Erst der finale Auftritt seiner Mutter vermag das Blatt zu wenden.Der Animationsfilm „Flatworld“ des Engländers Daniel Greaves schließlich wechselt Technik und Plot. Er entführt in eine virtuelle Welt der Zweidimensionalität, wo ein gewisser Matt Phlatt, ein Straßenbauarbeiter, seinen tristen Feierabend mit zwei Haustieren teilt. Der etwas tumbe Kater Geoff und der hinterlistige Zierfisch Chips tragen ständig Streitereien aus, während es Matt nur nach Ruhe verlangt. Als er eines Tages die Hauptleitung des „Informations-Highways“ durchtrennt, verhilft er einem Gangster aus einem der zahllosen Fernsehkanäle zur Flucht nach „Flatworld“. Fortan vermischen sich die Realitätsebenen. Matt und seine Haustiere sowie der Ganove liefern sich quer durch alle Unterhaltungsprogramme eine wilde Verfolgungsjagd. Die Fernbedienung wird zur gefährlichsten Handfeuerwaffe.Wenn auch die Kombination der drei Filme nicht unbedingt ideal erscheint („Flatworld“ schlägt in jeder Hinsicht andere Töne an als die beiden irischen Kurzspielfilme), wohnen jedem Beitrag eigene Qualitäten inne. Während die Iren auf überhöhte und wundervoll schwarzhumorige Weise das Ausgeliefertsein des einzelnen an eine feindliche Umwelt thematisieren, verlegt sich der Engländer Greaves auf eine Persiflage der Informationsgesellschaft. Wie in Peter Hyams mißlungenem Spielfilm „Stay Tuned“
(fd 30 199) wird hier die schöne, neue Medienwelt (wenn auch weitaus gelungener) als heimatloses Informations-Patchwork vorgeführt. In „The Life Of Reilly“ und „35 Aside“ werden die Akzeptanz klassischer Identifikationsmuster hinterfragt und existentielle Erfahrungen angesprochen, überhöht und parodiert. „You’ll Never Walk Alone“, der Titel des Programms, bezieht sich auf einen Song, der in „35 Aside“ zu hören ist. Darin liegt vielleicht der verbindende, gleichzeitig tröstende Nenner der Kurzfilm-Anthologie. Sehenswert ist diese allemal.