Zwickel auf Bizyckel

- | Deutschland 1969/1997 | 86 Minuten

Regie: Reinhard Kahn

Erst knapp 30 Jahre nach seinem Entstehen montiertes Filmmaterial, das 1969/70 unter strengen Richtlinien einer kollektivistischen Utopie in Frankfurt a.M. belichtet worden ist: Ohne personelle Vorherrschaft und bei einem Einheitslohn von 15 Mark pro Tag wurde seinerzeit ein Spielfilm entworfen, dessen Protagonisten in miteinander verzahnten Handlungen auftreten sollten, ohne Psychologie, wohl aber mit genauer sozialer Milieuzeichnung. Das Projekt scheiterte aus mehreren Gründen, steht aber heute, gerade auch durch sein Scheitern, als ebenso reiz- wie wertvolles Dokument aus einer Zeit voller ästhetisch-gesellschaftlicher Aufbrüche.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1969/1997
Produktionsfirma
Epplwoi Motion Pictures/Reinhard Kahn Filmprod.
Regie
Reinhard Kahn · Michel Leiner · Jeanine Meerapfel · Ingeborg Nödinger · Rolf Scheimeister
Buch
Reinhard Kahn · Michel Leiner · Jeanine Meerapfel · Ingeborg Nödinger · Rolf Scheimeister
Kamera
Rolf Scheimeister · Pavel Schnabel
Musik
Ivo Robic
Darsteller
Roswitha Basler (Doris) · Gabi Weber (Lieselotte) · Viktor Huber (Robert) · Sabine Ebner (Wiebke) · Ruth Goldstein (Maria Staudacher)
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
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Diskussion
„Zwickel auf Bizyckel“ ist ein unmittelbares Produkt der vom Schlüsseljahr 1968 ausgehenden politisch-künstlerischen Impulse. Und gleichzeitig ein Dokument des Scheiterns der damit verbundenen Utopien. Daß sich gerade im Scheitern wesentliche Funktionen von Kunst erfüllen können, wird oft sehr spät, im vorliegenden Fall nach 30 Jahren, deutlich.

Jahreswechsel 1968/69: Unter dem lokalpatriotischen Namen „Epplwoi Motion Pictures“ formieren sich in Frankfurt am Main fünf Frauen und fünf Männer zu einem Kollektiv aus Filmemacherinnen und Filmemachern. Es gibt keine personelle Vorherrschaft, ein Einheitslohn von 15 Mark pro Tag wird gezahlt. Geplant wird ein Spielfilm, dessen Protagonisten in ineinander verzahnten Handlungen auftreten sollen, ohne Psychologie, wohl aber mit genauer sozialer Milieuzeichnung. Ein Team des Kollektivs soll die eher kleinbürgerlichen Biografien der Helden erarbeiten, das andere das „revolutionäre Subjekt“. Bezeichnenderweise blieb vom klassenkämpferischen Anspruch des Projekts rein äußerlich nichts übrig; die einzige Szene mit explizit politischem Gestus, eine Parteiversammlung der KPD, wirkt sogar wie eine Parodie. Sei es, weil das Geld restlos aufgebraucht war, sei es, weil die Teams sich wegen unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten 1970 aufgelöst hatten – „Zwickel auf Bizyckel“ erfuhr keine kollektive Fertigstellung, das umfangreiche Material blieb 28 Jahre lang ungeschnitten liegen. Die von Reinhard Kahn und Michel Leiner 1997 montierten Materialen sind auch wegen ihres fragmentarischen Eindruckes von Reiz. Unter der Hand transportiert der Film jedoch eine subversive Botschaft: Die als Brechtsche Lehrstücke inszenierten Biografien der Kleinbürger sollten revolutionäre Proklamationen sein, waren aber nur Projektionen der eigenen Kleinbürgerlichkeit. So wie ihre Helden orientierungslos von Station zu Station wanderten, ohne zu begreifen, daß sie sich im Kreis drehen, so fungierte das „revolutionäre Subjekt“ als Phantom einer gesellschaftlichen Sinngebung. Der Abbruch der Dreharbeiten nahm das Scheitern der politischen Utopien dann vorweg. Darin lag, wenn man so will, eine gewisse Prophetie.

Zwei Hauptstränge bilden das Gerüst der Handlung. Zum einen die Geschichte um die Kindergärtnerin Doris, die ein Kind zu seinen Eltern nach Afrika bringen soll, es bei der Atlantik-Überfahrt aber vernachlässigt und an die See verliert. Zurückgekehrt nach Deutschland findet sie keinen Job mehr, wird auf Bewährung verurteilt und muß auch noch die Prozeßkosten tragen. Sie landet als Hilfsarbeiterin in einer Holzfirma, hechelt den Verheißungen der Konsumgesellschaft hinterher. Zum anderen erlebt man den Bauarbeiter Robert: Von seiner sich als Kellnerin verdingenden Ehefrau entfremdet er sich mehr und mehr, verwehrt ihr schließlich den Zugang zur gemeinsamen Wohnung. Durch die vertrackte Beziehung zu seiner Cousine Wiebke gerät er in den Strafvollzug, versucht danach, mehr oder weniger erfolgreich, wieder im (klein-)bürgerlichen Leben Fuß zu fassen. Die beiden Handlungslinien verbinden sich wider Erwarten nicht, scheinbar willkürlich wird mal die eine, mal die andere aufgegriffen. Roberts Odyssee ist dabei eindeutig die komplexere Geschichte, nimmt notwendigerweise auch mehr Raum ein. „Zwickel auf Bizyckel“ experimentiert mit den Konventionen des filmischen Erzählens: Geschehnisse, die vorher im Off oder durch Zwischentitel umrissen werden, erfahren später ihre Visualisierung oder werden, umgekehrt, optisch vorgreifend gezeigt (wirken dadurch stark irritierend) und erst später im weiteren Verlauf der Handlung wieder aufgegriffen und damit erklärt. Diese Methode eines achronologischen Ablaufs führt zu reizvollen Effekten und verweist (ebenso wie die konsequente Benutzung von Laiendarstellern und Originalschauplätzen) auf die Schule der französischen „Nouvelle Vague“, eine Ästhetik, die seit Alexander Kluge hierzulande längst in Vergessenheit geraten ist. Interessant ist diese Dekonstruktion auch durch ihre Eigendynamik, die sich sehr schnell gegen ihre eigene Intention richtet. Denn natürlich unterliegt jede szenische Erzählung den Gesetzen der aristotelischen Dramaturgie, auch wenn sie vorgibt, sich gegen sie zu erheben. Und so fällt es dann auch dem Kollektiv sehr schwer, für seine Helden irgendeine Alternative außerhalb des konventionellen Rahmens aufzuweisen. Trotz aller Irritationsmomente und Abschweifungen durchlaufen Doris und Robert in geradezu klassischer Weise die Kapitel eines Stationendramas – doch wie kann man sie wieder aus jener Konstruktion entlassen, ohne allzu deutlich auf die eben noch negierten Traditionen zu verweisen bzw. sich dazu zu bekennen? Der Film bricht einfach ab. Und findet damit nicht die schlechteste Lösung.

Künstlerische Produkte, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens nicht wahrgenommen oder nicht veröffentlicht wurden (also nicht zum archiviert-abrufbaren Wissen einer historisch abgeschlossenen Phase gehören), sind wie Botschaften einer Flaschenpost: Informationskonserven, deren Raum-Zeit-Zusammenhang erneut rekonstruiert sein will. Zum kryptischen Eindruck trägt hier noch der Titel „Zwickel auf Bizyckel“ bei – was sich mit etwas Mühe in „Hosenbund auf dem Fahrrad“ übersetzen ließe. Diese Umschreibung greift erneut das Thema ziellosen Unterwegsseins als zivilisatorische Daseinsform auf. In einer Schlüsselrolle diskutiert die gestrauchelte Kindergärtnerin Doris mit ihrer Freundin über mögliche Modernisierungsmaßnahmen in der Küchenausstattung: „Was gibt es denn für elektrische Haushaltgeräte, die man sich noch kaufen kann?“ Der Konsumzwang in der Wirtschaftswunder-Herrlichkeit erweist sich als Fluchtimpuls vor den Abgründen des horror vacui. Und der schmalzige Gesang von Ivo Robic tröstet fortwährend: „Morgen, morgen – lacht uns wieder das Glück. Gestern, gestern – liegt schon so weit zurück.“
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