Die Geschichte eines Mannes, der als Agent verschiedener Geheimdienste - Stasi, CIA, BND - seine Identitäten wechselte. Der Dokumentarfilm führt ihn als Schöngeist ein, baut seine schillernde Fassade aber immer mehr ab, bis am Ende ein gebrochener Choleriker bleibt, der sich in vermeintliche Idyllen flüchtet und den Selbstbetrug als Lebenselixier kultiviert. Ein spannendes Psychogramm und zugleich eine Allegorie auf die Zerstörung des Individuums als Folge der Abwesenheit von Moral.
- Ab 16.
Barluschke
Dokumentarfilm | Deutschland 1997 | 90 Minuten
Regie: Thomas Heise
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 1997
- Produktionsfirma
- Ö-Film
- Regie
- Thomas Heise
- Buch
- Thomas Heise
- Kamera
- Peter Badel
- Musik
- Mikis Theodorakis · Johann Sebastian Bach
- Schnitt
- Karin Schöning
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Ein merkwürdiger Film, wie alle bisherigen Arbeiten von Thomas Heise spröde, verstörend, geheimnisvoll – was kein Wunder ist bei einem solchen „Helden“: Berthold Barluschke, geb. 1945, aufgewachsen in der DDR, schon als junger Mann Agent der Staatssicherheit. In den USA baute er erfolgreich eine Scheinexistenz auf, besorgte für die Stasi Embargogüter und Spione, heiratete eine Amerikanerin, wurde in den Osten zurückgeholt, diente sich der CIA an, die ihn an den Bundesnachrichtendienst weiterreichte, verließ die DDR und verkaufte nach dem Mauerfall, zusammen mit alten Stasi-Feunden, Waffen der Nationalen Volksarmee. Seine Konten liegen vermutlich in der Schweiz. Ein Prozeß gegen ihn wegen Untreue und Betrug wurde 1995 eingestellt. Jetzt lebt Barluschke, getrennt von seiner Familie, in einer Pariser Eigentumswohnung. Und er hat AIDS.Heise erzählt die Vita dieses Mannes nicht chronologisch, löst vielmehr eine Haut nach der anderen ab, bis ein Kern zum Vorschein kommt, nackt und bloß – und doch wieder kaum die ganze Wahrheit. Sie zu entdecken, dürfte wohl niemand in der Lage sein, am wenigstens Barluschke selbst, der von früh an seine Identitäten in Schubkästen legte und glaubte, sie je nach Bedarf herausholen zu können. Charakterlosigkeit und Schizophrenie sind zugleich Ausgangs- wie Endpunkte des Lebenslaufs, ein Mann ohne Wurzeln, ohne Heimat, ohne Liebe, ohne Glück. Dabei beginnt der Film wie eine beliebige Familiensaga. Durch die seltsame erste halbe Stunde muß man sich hindurchsehen, und man ärgert sich auch wegen der Banalität und Austauschbarkeit des Geschehens. Barluscke und seine Frau Joana beziehen getrennte Wohnungen; die Umzugsvorbereitungen sind in vollem Gange; die Kinder werden bei der Mutter bleiben. Joana beschreibt Berthold als verbittert, bösartig und wenig positiv. Das Bild, das Barluschke von sich zeichnet, sieht aber anders aus: da redet ein Schöngeist mit Dreitagebart, ein Intellektueller, der Klavier spielt, einer Klassik-CD lauscht, ein Familienvater, der sich gegen die vermeintlich lasche Mutter um das Fortkommen seiner Kinder sorgt – und sogar um Heises Filmmaterial, das zu teuer werde, wenn sich die Familie nicht endlich geschlossen vor der Kamera einfände. Ein symbolisches Bild leitet zum zweiten Teil über: Menschen gehen durch quietschende Türen aus und ein, anonym, nicht zu fassen. Dann reflektiert Barluschke seine Agentenlaufbahn. Unter falschem Namen wurde er in die USA geschleust, und oft habe ihn dabei ein Gefühl des Nicht-Realen, Absurden beschlichen: „Es ist alles nur ein Film...“ Er spreizt sich, sonnt sich in Legenden. Wahrheit und Erfindung sind in seinem Kopf längst zu einem unentwirrbaren Knäuel verdichtet. Konkreten Fragen wie der, was er in den USA eigentlich gemacht habe, weicht er aus, rettet sich in Allgemeinplätze. An politische Ideale kann er sich nicht mehr erinnern, vielleicht hat er sie nie besessen, und die Lust am Abenteuer überlagerte schon immer alles rational Ideologische.Die Frau, die Tochter und der Neffe ergänzen die Splitter aus dem Innenleben des „Kundschafters“. Ein Kolportageautor hätte sich diese Biografie und ihre dramatischen Verschlingungen nicht besser ausdenken können. Als sich Barluschkes Schwester in der DDR das Leben nahm, sorgte die Stasi dafür, daß deren kleiner Sohn nicht dem Vater, sondern Barluschkes Eltern zugesprochen wurde. So hatte seine Mutter wieder ein Kind, Barluschke selbst konnte aus ihrem Leben verschwinden. Als er Jahrzehnte später wieder in die DDR zurückkehrte, wurde eine Familie, die in seinem Haus wohnte, binnen weniger Tage zwangsausgesiedelt. Auch für Joana, die von allem nichts gewußt haben will, erfand die Stasi eine Legende. Am stärksten ist der Film, wenn die Beteiligten schweigen und die Kamera nur beobachtet, etwa wenn Barluschke eine Musik von Mikis Theodorakis mitsingt und -dirigiert und den griechischen Komponisten als eine Art Vorbild benutzt. Schließlich sei auch der einst links gewesen und säße heute für die Konservativen im Parlament. Zweimal gelingt es Heise, Barluschke betroffen zu machen. Einmal, als er den Schwadroneur unverblümt des Versteckspiels bezichtigt, und ein andermal, als Barluschke in den Tagebüchern seines verstorbenen schwulen Freundes blättert, aber daraus nicht zu lesen bereit ist. Seltene Momente eines aller Schleier entledigten Gesichts.Den entlarvenden Höhepunkt liefern aber Amateuraufnahmen von Barluschke selbst, der seine brutalen, cholerischen Ausbrüche auf Video festhält, das Objektiv wie ein Gewehr auf Frau und Kinder gerichtet. Er sein kein Durchschnittsmann, und nur die Wahrheit mache frei: Entäußerungen eines Psychopathen. Jetzt, fast im Finale, schließt sich der Kreis: Der Fall Barluschke – eine Allegorie auf die Zerstörung des Individuums als Folge der Abwesenheit von Moral. Heise baut dieses Gleichnis mit kühler, entlarvender Gnadenlosigkeit. Und fügt einen Epilog trügerischer Illusionen an: Joana hofft noch immer, die Familie zusammenhalten zu können; was uns nicht umbrachte, macht uns stark. Und Barluschke sitzt im Café und entwirft das Bild einer trotz allem harmonischen Zukunft. Noch einmal im Hochzeitsanzug zu Joana gehen; noch einmal sonntags mit der Familie essen und friedlich Probleme bereden wie einst bei Mutter. Die Beschwörung einer idyllischen Vergangenheit, Selbstbetrug als Lebenselixier – ein spannendes, schillerndes, bitteres Psychogramm.
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