Mit Tom Tykwers „Das Licht“ ist die 75. Berlinale eröffnet worden. Das 162-minütige Werk strotzt vor Ideen und will hochrelevante Themen von Flüchtlingsschicksalen bis zum Klima-Aktivismus mit immer neuen filmischen Wendungen zum Überwältigungskino aufblasen. Doch die Ambitionen stehen sich gegenseitig im Weg und bringen einen bizarr überkonstruierten Film hervor. Über einen holprigen Start in die Berlinale-Ära der neuen Intendantin Tricia Tuttle.
Wenige Lieder quillen so von Ideen über wie „Bohemian Rhapsody“ der Rockgruppe „Queen“. Große Oper, zurückgenommene Rezitative, ruhige Balladenmomente, Hard-Rock. Dazu kommen die Themen: reales Leben und Fantasie, Tötungsgeständnis und Todesgedanken, geschmetterte Zwischenrufe, die eine Clownsfigur, einen Astronomen oder einen mythischen Dämon beschwören, inklusive der Anrufung von Allah, Blitz und Donner. „Bohemian Rhapsody“ hat so viel zu bieten, dass der Song auch nach 50 Jahren noch immer Begeisterung erzeugt, selbst bei einem Jungen, der erst Jahrzehnte später zur Welt gekommen ist und fraglos musikalisch ganz anders sozialisiert wurde. Auf den kleinen Dio in „Das Licht“ trifft dies jedenfalls zu. Immer wieder wird der Song in dem Film angespielt. Dio trällert ein paar Zeilen oder es gibt eine ausgedehnte Choreografie zu sehen; die Faszination des Liedes scheint endlos. Mit einer Ausnahme: Wo „Bohemian Rhapsody“ an sich auf einer eher nihilistischen Note mit „Nothing really matters“ abschließt, schreibt der Film von Tom Tykwer, der 1965 geboren wurde und damit zur Generation der ersten „Queen“-Fans gehört, dieses Ende zum umarmenden „Everything that matters“ um. Denn der Film ist, wie der Song, von Grund auf als Kunstwerk gedacht, das tendenziell alles umfassen will.
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„Das Licht“, Tykwers erste Kino-Regiearbeit seit 2016 und der Eröffnungsfilm der Berlinale 2025, ist Gesellschaftsdrama und Sittenkomödie in einem. Er packt eine dysfunktionale Familienkonstellation ebenso an wie Flüchtlingsschicksale und Klima-Aktivismus, Gefühlskälte ebenso wie den Wunsch nach Erlösung. Er mischt Musical-, Animations-, Science-Fiction- und Actionelemente hinein. Geht als Satire auf Werbebranche, auf Therapien und anderes durch. Nimmt politische Arroganz und selbstgefällige Entwicklungshilfe aufs Korn. Bietet matte Flachsereien, vulgäre Ingmar-Bergman-Variationen und Kurzauftritte von Tykwers „Babylon Berlin“-Darstellern. Und das alles im kleinbürgerlichen Berliner Kosmos mit Abstechern an die Peripherie, nach Kenia, in den Syrienkrieg und in Fantasy-Gefilde, deren genaue Ortung unmöglich ist.
Dio ist in diesem Szenario tatsächlich ein wenig der „Poor Boy“ aus „Bohemian Rhapsody“, mit dem er sich identifiziert. Der Sohn einer Deutschen und eines Kenianers verbringt immer wieder Wochen bei seiner Mutter Milena in Berlin, ihrem Mann Tim und deren zwei 17-jährigen Zwillingskindern Jon und Frieda. Wie er diese Phasen überleben kann, ist schwer begreifbar, denn in der Familie Engels lebt jeder in erster Linie für sich selbst. Milena ist als Ministerialbeschäftigte ständig in Kenia, wo sich auch der Seitensprung mit Dios Vater Godfrey ereignet hat. Beruflich betreut sie Projekte, die wegen mangelnder Umsetzung vor Ort und schwindender Rückendeckung aus Deutschland aber auf der Kippe stehen. Tim fängt mit Werbekampagnen Konsumenten ein und markiert noch immer jugendlichen Elan, auch wenn er seine Kolleg:innen und das Zielpublikum mittlerweile im Alter deutlich übertrifft. Außerdem fährt er immer Fahrrad, um wenigstens in einer Hinsicht ein Bewusstsein für die Probleme der Gegenwart zu demonstrieren. Die Kinder sind schnell charakterisiert: Jon beherrscht wenig außer einem Virtual-Reality-Spiel, das aber meisterlich; Frieda tut sich die meiste Zeit selbst leid, gleitet durch Drogentrips und nimmt auch mal an einem Klimaprotest teil. Was die Jugend eben so macht. Eine ganz normale, oberflächliche Familie, die sich aus dem Weg geht und sich nicht einmal bei der Nutzung des Kühlschranks in die Quere kommt.
Um in diese erstarrte Gesellschaft im Zentrum von „Das Licht“ Bewegung zu bringen, braucht es eine fremde Figur. Die lässt Tykwer mit der Exil-Syrerin Farrah auf die Engels-Familie als deren neue Putzfrau los und macht eine Zeitlang richtig Ernst, wenn sich hinter Farrahs freundlichem Auftreten ein schlimmes Flüchtlingsschicksal enthüllt. Mehr allerdings interessieren den Film Farrahs etwas obskure heilende Kräfte, mit denen sie zunächst mit offenem Ohr und entschlossenem Ratschlag die seelischen Probleme aller Familienmitglieder verbessert. Als das nicht mehr reicht, folgt die nächste Stufe: Einen nach dem anderen der Engels macht Farrah mit einer Therapie bekannt, bei der sich die Betroffenen vor eine fünffach blinkende Lampe setzen müssen. Womit ein äußerst komplizierter Plan seinen Anfang nimmt.
Keine entfesselten Moves mehr
Umständlich
erscheint dieses Vorhaben aber vor allem deshalb, weil Tykwer auf dem Weg bis
zur Umsetzung noch reichlich Zeit mit den Befindlichkeiten der Engels verbringt
und dabei in jede Seitenstraße hineinläuft, die sich unterwegs auftut. „Filme,
die sich selbst herausfordern, die sich in jeder Szene der Routine
widersetzen“, seien sein Leitbild für „Das Licht“ gewesen, hat der Regisseur zu
Protokoll gegeben und leert dementsprechend in vollen Zügen das Füllhorn seiner
Einfälle aus. Keine Szene ohne ornamentale Schlenker, kein Filmtrick, der
unangetastet bleibt, und dabei immer felsenfest von der eigenen Relevanz und
Virtuosität überzeugt ist.
Es gibt aber etliche Aspekte, die Tykwer entgangen sind und die seinen Höhenflug unrühmlich zum Absturz bringen. Nicht das Geringste ist die mangelnde Tiefe der Figuren und der hehren Themen, gepaart mit einem Inszenierungsstil, der lediglich aufstapelt und dem nie eine produktive Vereinigung der Elemente gelingt. „Das Licht“ wirkt, als hätte sich der Regisseur noch einmal auf das filmische Tanzparkett gewagt, um eine ähnliche Abfolge entfesselter Moves vorzuführen, wie sie ihm einst in „Lola rennt“ gelungen sind. Doch diesmal kommen nurmehr seltsame Verrenkungen und eine Masse an Themen ohne Mehrwert heraus. Wenn „Das Licht“ nach 162 Minuten endlich sein Ziel erreicht hat, drängt sich „Nothing really matters“ im Grunde doch mehr als Fazit auf denn Tykwers positive Umdeutung.
Ehrenpreis für Tilda Swinton
Für die erste Berlinale unter der Leitung von Tricia Tuttle ist das nicht der erhoffte strahlende Auftakt. Im Gegenteil: Die Intendantin muss nun sehr darauf hoffen, dass der Rest des Programms den halbgaren Einstieg vergessen machen kann. Bei ihrem Auftritt in der Eröffnungsgala war es eine kluge Entscheidung, sich weniger über die Relevanz der gegenwärtigen Berlinale auszulassen, als zur 75. Ausgabe die Traditionen der Filmfestspiele und bleibende Glanzlichter zu beschwören. Die Rückschau auf frühere Gewinner des „Goldenen Bären“ passte ebenso dazu wie der Ehrenpreis für die britische Schauspielerin Tilda Swinton, die der Berlinale bereits seit fast 40 Jahren die Treue hält. Doch ewig im Glanz der Vergangenheit sonnen kann sich die neue Leiterin nicht. In den nächsten Tagen wird es ernst für sie.