Mit seinem Familien- und Gesellschaftsdrama „Die Saat des Heiligen Feigenbaums“ (Kinostart: 26.12.) ging der iranische Filmemacher Mohammad Rasoulof ein großes Risiko ein. Sein Film greift die Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini auf und zeigt ihre Auswirkungen auf eine Familie, in der sich ein Graben zwischen Eltern und Töchtern auftut. Nach Fertigstellung des ohne Drehgenehmigung realisierten Films floh Rasoulof aus dem Iran, um der Verhaftung und einem Berufsverbot zu entgehen. Ein Gespräch über Herausforderungen eines heimlichen Drehs und ein Leben unter Dauerdruck und moralischen Dilemmata.
Falls es Ihnen nicht zu schwerfällt, würde ich Sie zunächst bitten, die Umstände Ihrer Flucht aus dem Iran zu schildern.
Mohammad Rasoulof: Sie wissen sicherlich, dass ich schon seit 15 Jahren gegen dieses Regime kämpfe, gegen die Zensur. Von der Zensur gelangte mein Fall dann zu den höheren Behörden. Ich bekam über einige Jahre hinweg mehrere Hafturteile, die nicht vollstreckt wurden. Sie schwebten aber die ganze Zeit wie ein Damokles-Schwert über meinem Kopf. 2022 wurde ich zum ersten Mal verhaftet. Das Urteil, das zuvor schon bestand, wurde verschärft. Als ich dann im Gefängnis war, musste ich mir die wichtige Frage stellen: Wäre ich bereit, ein Opfer der Zensur zu werden? Eine sehr komplexe Frage, über die ich im Gefängnis sehr viel nachgedacht habe. Ich hätte ein gefangener Filmemacher sein können, der irgendwann entlassen wird. Doch wenn ich dann wieder einen Film machen wollte, würde ich wieder ins Gefängnis kommen. Das wäre ein Kreislauf, der nie endet. Ich musste für mich eine Entscheidung treffen: Wenn ich Filme auf meine Art und Weise machen will, dann kann ich das nicht im Iran tun. Ich war also mental darauf vorbereitet, dass ich den Iran verlassen muss, wenn ich so weitermache wie bisher. Trotzdem habe ich versucht, den Gedanken beiseitezuschieben. Jeden Tag habe ich gehofft, dass sich etwas zum Guten wenden könnte. Doch dann wurde mein Urteil für eine achtjährige Haft bestätigt.
Was geschah dann?
Rasoulof: Ich habe sofort verstanden, dass es jetzt ernst wurde. Ich hätte keine Möglichkeit mehr gehabt, zu arbeiten. Das war das Entscheidende. Zwischen der Bestätigung meines Hafturteils und dem Verlassen meines Hauses lagen nur zwei Stunden. Ich war darauf gut vorbereitet, weil ich ständig darüber nachgedacht hatte. Wenn man ein Thema ständig zu verdrängen sucht, kommt irgendwann der Moment, wo man die Situation akzeptieren und dann handeln muss. Ich habe mein Haus verlassen und bin durchs Gebirge zu einem Nachbarland gelaufen. Ich habe Mobiltelefon und Computer zurückgelassen, um nicht verfolgt werden zu können. Für die Kommunikation hatte ich mir ein Handy ohne SIM-Karte besorgt, das ich aber ausgeschaltet ließ. Im Gefängnis hatte ich zuvor Menschen kennengelernt, die wussten, wie man die iranische Grenze heimlich überquert. Einer von ihnen brachte mich als Führer durch das Gebirge. Nach drei Tagen Fußmarsch war es geschafft. Ich habe ein paar Tage abgewartet, bis meine Familie in Deutschland mit dem Konsulat in meinem Fluchtland über meine Situation sprechen konnte. Sie haben mir sehr schnell geholfen und meine Identität mit Fingerabdrücken bestätigt, weil ich keinen Pass mehr hatte. Mir wurde sehr schnell geholfen, von diesem Nachbarland nach Deutschland zu fliegen.
Was ist der Ausgangspunkt von „Die Saat des heiligen Feigenbaums“? Ich frage, weil man einige reale Handy- und TikTok-Videos sieht, die Demonstrationen in Teheran nach dem Tod von Jina Mahsa Amini im Jahr 2022 zeigen.
Rasoulof: In den Jahren, in denen ich gearbeitet habe, hatte ich mehrere Erlebnisse mit Richtern und Staatsanwälten, die mich verhört haben. Ich saß ihnen gegenüber und habe mich gefragt: Was denken sie? Wie kommt es, dass ich so denke wie ich und sie so wie sie? Woher kommt dieser Unterschied? Ich habe dann darüber nachgedacht, wie ich einen dieser Menschen, die für das System arbeiten, in meine Erzählung einfließen lassen kann. Im Gefängnis hatte ich die Idee mit einer Familie, durch die eine Kluft gehen, eine Abgrenzung zwischen den einzelnen Mitgliedern. Ich habe die Revolution dann aus dem Gefängnis verfolgt. Nach meiner Entlassung habe ich sehr viele Videos angeschaut, die von den Demonstranten aufgenommen wurden Als ich das Drehbuch schrieb, hatten diese Videos einen sehr großen Einfluss auf die Geschichte. Einerseits hatte ich mit einer Familie in ihrer Wohnung zu tun, andererseits gibt es die Außenwelt – das, was außerhalb dieser Wohnung passiert. Darüber hinaus gab es zwei Generationen. Die Generation der Mutter, die alles glaubt, was sie im Staatsfernsehen sieht, und andererseits die Generation der Töchter, die nicht akzeptiert, was man im Fernsehen zu sehen bekommt, auch weil sie Zugang zu anderen Quellen hat. Diese Videos sind echt und zeigen, was für einen großen Einfluss die sozialen Netzwerke in so einer Situation haben.
Sie hatten keine Drehgenehmigung und mussten heimlich drehen, in Privatwohnungen, im Auto, in dieser altertümlichen Stadt außerhalb Teherans. Wie kann man sich die Dreharbeiten vorstellen?
Rasoulof: Wenn wir über heimliche Dreharbeiten sprechen, geht es nicht nur darum, dass man irgendwo drinnen in Sicherheit ist. Es gibt auch andere Maßnahmen, auf die man zurückgreifen kann. Wir hatten beispielsweise ein zweites Drehbuch mit einem regimetreuen Inhalt, das aber nicht echt war. Für den Fall, dass wir kontrolliert worden wären, hätten wir diese Dokumente vorgezeigt und so bewiesen, dass nichts Verbotenes geschieht. Das Wichtigste ist immer, nicht aufzufallen. Unsere Charaktere sind auch sehr verschleiert und bedeckt, sie sehen aus wie Schauspieler, die man normalerweise im Staatsfernsehen sieht. Darum waren sie fast unscheinbar. Ihr Aussehen war so glaubwürdig, dass viele Passanten meinten, es würde ein staatlicher Film oder eine Fernsehserie gedreht. Sie beschimpften die Schauspieler sogar, weil sie dachten, sie würden für das Regime arbeiten. Jeder Film ist so unterschiedlich, dass man jedes Mal wieder einen neuen Weg finden muss, um heimlich zu drehen. Jede Szene ist anders als die anderen, da muss man jedes Mal schauen, wie die Situation aussieht, in welcher Umgebung, in welcher Atmosphäre man sich befindet. Es gibt keine Patentlösung. Trotzdem waren wir eine sehr kleine Gruppe. Die Ausrüstung, etwa die Kameras, war auch sehr klein. Trotz dieser Einschränkungen hatten wir sehr viel Kontrolle über das, was wir machen wollten.
Ich würde gern über die Figur der Mutter sprechen, die eigentlich wissen müsste, wie sehr Frauen im Iran unterdrückt werden. Trotzdem nimmt sie die patriarchalische Haltung ein und verteidigt ihren Mann. Ist das typisch für diese Elterngeneration im Iran?
Rasoulof: Die Mutter ist sehr traditionell eingestellt. Die Art, wie sie aufgewachsen ist, ist in ihrem Kopf so sehr verankert, dass sie nicht anders kann. Es gibt also auch Frauen, die das Patriarchat verteidigen. Man kann das nicht verallgemeinern. Oft liegt es daran, dass ihre Erziehung an diesem Verhalten schuld ist. Es bezieht sich auch auf einen kleinen Konflikt zwischen Tradition und Moderne, der sich im Iran vor 150 Jahren zutrug. Ein Konflikt, der vor allem in der Politik präsent ist. Vor 90 Jahren hatte man versucht, die Menschen mit Gewalt zu zwingen, den Schleier abzulegen. Jetzt passiert genau das Gegenteil, es gibt den Zwang zum Schleier. Die Mutter hat diese traditionellen Werte in sich, sie sind eng mit ihren eigenen Werten verbunden. Um ihre Familie zusammenzuhalten, muss sie ihrer Meinung nach diese Werte noch verstärken. Das ist aber nicht etwas, das man überall sieht. Es ist sehr unterschiedlich. Nicht jede Familie im Iran verhält sich so. Es sind zumeist Familien mit sehr religiösen Wurzeln.
Sie liebt ihren Mann. Es gibt diese schöne Szene, in der die Mutter dem Vater die Haare schneidet und den Bart färbt. Im Deutschen nennt man so etwas einen „Liebesdienst“. Eine meiner Kolleginnen hat das anders gesehen: Hier wäre eine Frau gezwungen, den Mann zu bedienen.
Rasoulof: Ich sehe es auch eher als Liebesdienst. Sie sieht sich in diesem Haus, es ist ein Zuhause, es ist ihr Zuhause. Sie sieht ihre Rolle darin, diese Familie zusammenzuhalten. Sie versucht, das Gleichgewicht zwischen den Kindern und dem Vater auszubalancieren. Manchmal ist sie auf dieser Seite, manchmal auf der anderen. Darauf verwendet sie ihre ganze Energie. Sie sieht die Mitglieder dieser Familie nicht als einzelne Persönlichkeiten, sondern nur zusammen, im Verbund.
Sehr schockierend ist mitunter die Gewalt im Film. Der Freundin der Töchter wird mit einer Schrotflinte ins Gesicht geschossen. Haben Sie nicht Angst, den Zuschauer zu verschrecken?
Rasoulof: Meiner Meinung nach ist das eine menschliche Erfahrung, die man als Zuschauer ansehen muss. Ich wollte unbedingt, dass das gesehen wird. Darum habe ich auch die Kamera sehr lange auf das Gesicht gehalten. Es ist eine sehr schmerzhafte Szene, und doch muss sie gesehen werden.
Welche Bedeutung hat das alte Dorf, in dem sich der Showdown ereignet?
Rasoulof: In dieser Szene gibt es mehrere metaphorische Bedeutungen. Das Aussehen des Dorfes, die ganze Szene, ist eine metaphorische Anspielung auf die Geschichte des Iran. Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne wird hier deutlich. Der Ort erinnert an die Historie des Landes, weil er so antik ist. Wenn der Mann die Mutter an den Haaren zieht, ist das eine Anspielung auf die Tatsache, dass Frauen über ihre Haare kontrolliert werden. Dieser Anblick in dieser Situation ist der Moment, wo diese Familie als Symbol für die Gesellschaft gesehen wird.
Interessant ist auch die Figur des Vaters, der zwar am Schluss der Bösewicht ist, zu Anfang aber noch ganz anders erscheint, weil er sehr viel Druck ausgesetzt ist. Von seinen Vorgesetzten, von seiner Frau, die sich eine größere Wohnung wünscht, von seinen Töchtern, die gerne ein eigenes Zimmer hätten. Der Druck auf die Männer im Iran ist also auch sehr groß.
Rasoulof: Das ist ein moralisches Dilemma zwischen Wohlstand und Freiheit. In einer totalitären Gesellschaft wie dem Iran passiert es sehr oft, dass man sich in so einer Situation befindet. Diese Entscheidungen zwischen Wohlstand und Freiheit trifft man jeden Tag. Der Mann trifft die Entscheidung für den Komfort seiner Familie. Das hätte man zuvor nicht von ihm erwartet. Das zeigt genau seinen Charakter und wie er allmählich seine Werte, seine Moral verliert.