Ein Jahrzehnt lang schienen die Streamer und das lineare Fernsehen geborene Todfeinde zu sein, die sich wechselseitig das Publikum abspenstig machen wollten. Inzwischen nivellieren sich die Gegensätze, und auch der Konkurrenzkampf hat sich modelliert. Das ist für Filme und Serien durchaus von Vorteil, wie die aktuelle dritte Staffel von „The Bear“ vor Augen führt.
Vor zehn Jahren unterschieden sich Streamingplattformen wie Netflix & Co. radikal von den linear programmierenden Fernsehsendern. Ihre permanent zugänglichen, werbefreien Angebote an Filmen und Serien waren eine echte Alternative zu den oft tagesaktuellen Sendungen im Fernsehen, das sich teilweise auch noch durch Werbeunterbrechungen finanzierte. Heute übertragen Streamer wie Amazon Prime sogar Sportereignisse live und warten mit aktuellem Programm auf. Disney+ und der zu Amazon gehörende Freevee-Kanal beginnen und unterbrechen ihre Serien und Filme mit Werbeclips. Da die linearen Fernsehsender ihre ausgestrahlten Sendungen oft in ihre Mediatheken übernehmen, wo sie abgerufen werden können, gleichen sie sich ihrerseits den Streamingdiensten an. Bald wird man zumindest die Spartenfernsehsender und die Streamer kaum noch unterscheiden können.
Gleichzeitig berühren sich aber Programm und Werbung auf eine neue Weise. Beim Sportstreamer DAZN buhlt das hauseigene Wettbüro (DAZN Bet) um Einsätze der Zuschauer auf den Ausgang eines Sportereignisses, das man hier live sehen kann. In ihrer ästhetischen Anmutung gleichen die Hinweise auf live übertragene Fußballspiele oder Boxkämpfe denen für Sportwetten auf diese Ereignisse wie ein faules Ei dem anderen.
Fischstäbchen-Werbung vor „The Bear“
Auf Disney+ läuft vor den aktuellen Folgen der vierten Staffel von „Only Murders in the Building“ ein Werbeclip von L’Oréal, in dem Eva Longoria zu sehen ist, die in der Serie als Schauspielerin auftritt. Eher unfreiwillig komisch ist, dass ausgerechnet vor den Folgen der dritten Staffel der US-Serie „The Bear: King of the Kitchen“ (ebenfalls bei Disney+) für Tiefkühlkost von Fischstäbchen geworben wird, obwohl die hochgelobte Serie vom Kampf eines Chicagoer Spitzenkochs um die Anerkennung der Gastronomiekritik für das familieneigene Restaurant erzählt.
Zum Angleichungsprozess der Streamer an die linearen Sender gehört auch, dass die meisten von ihnen dazu übergegangen sind, nicht gleich alle Folgen einer Staffel ins Netz zu stellen, sondern anfangs nur eine pro Woche. Man will damit die Spannung der Serie erhöhen, was wiederum zum vermehrten Einsatz von Cliffhangern führt. Dieser Überbietungslogik verweigert sich allerdings die dritte Staffel von „The Bear“. Alle zehn Folgen wurden bei der Premiere am 26. Juni zusammen ins Netz gestellt. Und jede von ihnen büxt gleichsam auf radikale Weise aus der linearen Erzählung aus.
Carmy und die Seinen
Das beginnt in der ersten Folge, die als eine Art Rückblick auf das angelegt ist, was die Hauptfigur Carmy Berzatto (Jeremy Allen White) im Familienrestaurant bislang erlebt hat. Doch dieser Rückblick ist so fragmentarisch gehalten und als assoziativer Bewusstseinsstrom montiert, dass ihn nur die verstehen können, die aufmerksam die ersten Staffeln gesehen haben. In den nächsten Folgen geht die Serie dann dem Leben der Figuren neben Carmy nach; so erfährt man die Vorgeschichte von Tina Marrero (Liza Colón-Zayas), die sich von der Gehilfin zur Köchin hochgearbeitet hat, und lernt die neue und vor allem teure Wohnung kennen, die Sydney Adamou (Ayo Edebiri) bezieht, die ihren Vertrag als Partnerin von Carmy immer noch nicht unterzeichnet hat.
Dieses Interesse für das Leben der Figuren spitzt sich neben
der Handlung um das Restaurant in der achten Folge mit dem Titel „Eiswürfel“
auf besondere Weise zu. Sie konzentriert sich auf die wenigen Stunden vor der
Geburt des ersten Kindes von Carmys Schwester Natalie (Abby Elliott).
Als sie ins Krankenhaus muss, kann sie telefonisch keinen der Verwandten und
Freunde erreichen, so dass sie in ihrer Not ihre Mutter Donna Barzatto (Jamie Lee Curtis) anruft, zu der sie ein kompliziertes Verhältnis hat. Wie
die beiden Frauen in einem Gespräch, das vom Takt der Wehen bestimmt wird, über
ihre beiderseitigen Verletzungen zu sprechen lernen, wie lange Verdrängtes
langsam benannt werden kann, wie die dreifache Mutter ihrer Tochter von den
Erfahrungen ihrer Geburten berichtet, wie die Tochter ihrerseits eingesteht,
was sie bei der gleich folgenden Geburt befürchtet, ist eine bewegende, fast
die gesamte Folge füllende Szene. Inszeniert hat sie Christopher Storer
persönlich, der „The Bear“ entwickelt hat. Das Drehbuch schrieb er zusammen mit
Joanna Calo und Catherine Schetina.
Ihre Intensität erhält die Folge durch das grandiose Zusammenspiel von Abby Elliott und Jamie Lee Curtis. Sie sind meist in Nahaufnahmen zu zweit im Bild, während die Serie ansonsten Gespräche eher klassisch in Schuss-Gegen-Schuss auflöst. So kann man genau verfolgen, wie die Frauen mimisch und gestisch aufeinander reagieren. Die Tränen, die beide in unterschiedlichen Momenten vergießen, werden nicht dramatisch betont, sondern gleichsam wie nebenbei gezeigt. Ihr Gespräch wird zwar durch eine Krankenschwester und durch einen Arzt unterbrochen, aber nicht abgebrochen. Das ist großes Method Acting, in das aber sicher auch eigene Erfahrungen der Schauspielerinnen eingeflossen sind. Die Geburt selbst zeigt die Serie nicht. Die Kamera verlässt die Geburtsstation mit der erschöpften Donna, die im Warteraum von den Fak-Brüdern (Matty Matheson, Ricky Staffieri) in Empfang genommen wird, die ansonsten für die komischen Momente der Serie zuständig sind.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass „The Bear“ auch jenseits der Kochszenen und den vielen Anspielungen auf die Spitzengastronomie mit zum Besten gehört, was das Fernsehen – egal ob in Gestalt von Streamern oder linearen Sendern – derzeit anbietet, dann hat ihn diese Folge geliefert.