Bei der 81. Mostra feierten gerade Luca Guadagninos „Queer“ und Pedro Almodóvars „The Room Next Door“ Premiere. Beide Filme kreisen um Figuren, die auf Abgründe zusteuern und die Nähe zu einem anderen Menschen suchen. In „Harvest“ von Athina Rachel Tsangari geht es hingegen um eine Gemeinschaft, die zerbricht, als ihre Lebens- und Wirtschaftsform verloren zu gehen droht.
In „Queer“, einer Verfilmung des gleichnamigen Kurzromans von William S. Burroughs um US-Bürger, die in den 1950er-Jahren in Lateinamerika leben, gibt es gegen Ende eine surreale Szene, in der die beiden Protagonisten, der drogenabhängige Lee (Daniel Craig) und sein jüngerer Geliebter Allerton (Drew Starkey), quasi zu einem einzigen Körper verschmelzen. Die Arme und Hände gleiten nicht mehr über die Haut, sondern darunter, so als gäbe es zwischen ihnen keine Barriere mehr. Ob man das eher gruselig findet oder erotisch, liegt im Auge der Betrachterin; Regisseur Luca Guadagnino hält es in der Schwebe.
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Für Lee, der den jüngeren Reisegefährten in Mexiko-Stadt kennenlernte und ihn im Verlauf dieses hochstilisierten Liebesdramas auf eine Tour durch Südamerika und in den Dschungel mitnimmt, ist es Zweck und Ziel ihrer Reise. Auch wenn ein Bleiben in dieser Blase der Zweisamkeit nicht möglich ist.
Der abgewrackte Gringo Lee hat schon länger die USA verlassen, weil er in Mexiko-Stadt mit relativ bescheidenen Mitteln als Schriftsteller leben und ungestörter seiner Opiat-Sucht nachgehen kann. Wenn er nicht schreibt, driftet er von Drogen oder Alkohol beduselt durch die Straßen und schleppt in den Bars Bettgefährten für die Nacht ab. Bis er dem wesentlich jüngeren Allerton über den Weg läuft und gleich auf den ersten Blick wie von einem Blitz von der Liebe getroffen wird. Von da an sucht er wie von einem Magneten angezogen Allertons Nähe und schafft es schließlich auch, mit ihm intim zu werden.
Zugleich aber spürt er die Fliehkräfte, die auf diese ungleiche Liaison einwirken, weil Allerton längst nicht so stark involviert ist und sich immer wieder zu entziehen droht, was in den Sexszenen schön ins Bild gesetzt wird, bei denen Guadagnino die Kamera von der körperlichen Zweisamkeit abschweifen lässt auf die Fenster und die Stadtlandschaft davor, so als würde etwas unerbittlich von innen nach außen ziehen. Bei der Reise, die Lee mit Allerton in den Süden unternimmt, geht es darum, eine Pflanze zu finden, die Yage oder Ayahuasca genannt wird und angeblich zu telepathischen Fähigkeiten verhelfen soll. Das Gewächs fasziniert Lee wohl auch deswegen, weil er mit ihrer Hilfe die Grenze zu überwinden hofft, die sein Liebhaber immer wieder zwischen ihnen errichtet.
William S. Burroughs setzte mit „Queer“ seinen autobiografisch gefärbten Roman „Junky“ fort; obwohl Guadagnino der literarischen Vorlage folgt, verwandelt er sie doch in etwas sehr Eigenes – eine schwule Liebesgeschichte, die zwar expliziter ist als sein furioser Film „Call Me by Your Name“, aber dennoch ähnlich romantisch und vor allem ähnlich feinfühlig ist in der Zeichnung der Unsicherheiten eines Liebenden, der darum bangt, welches Echo sein Begehren beim Gegenüber findet. Stilistisch hat sich Guadagnino vom melodramatischen Kino von Powell & Pressburger inspirieren lassen. Seine im Studio entstandenen, absichtlich künstlich wirkenden Südamerika-Kulissen atmen ein „Black Narcissus“-Flair wie aus einem Fiebertraum.
Auf dem letzten Weg nicht allein sein
Stil spielt auch in „The Room Next Door“ von Pedro Almodóvar eine tragende Rolle. Der jünste Film des spanischen Altmeisters bescherte dem Filmfestival am Lido mit Julianne Moore und Tilda Swinton zwei weitere Diven auf dem roten Teppich. Moore und Swinton gaben indes nicht nur anlässlich der Premiere eine glamouröse Erscheinung ab, die eine in goldener Robe, die andere silbrig wie der Mond, sondern auch im Film. Obwohl das zunächst einigermaßen unpassend erscheint, denn „The Room Next Door“ ist ein eher unglamouröser Stoff: ein Sterbedrama um eine Krebskranke (Tilda Swinton), die mit Hilfe einer im Darknet organisierten Pille den schmerzhaften Sterbeprozess abkürzen will. Eine Freundin (Julianne Moore) soll sie dabei unterstützen - nicht um aktive Sterbehilfe zu leisten, denn noch kann die Kranke ihren Todeswunsch selbst in die Tat umzusetzen, sondern schlicht um da zu sein, im „Zimmer nebenan“, wenn sie die Pille schluckt.
Der Film begleitet die beiden Frauen, die beide alleinstehend und beruflich erfolgreich sind - die Kranke war eine bekannte Kriegsberichterstatterin, die Freundin ist eine erfolgreiche Schriftstellerin –, auf ihrem letzten gemeinsamen Weg. Er führt sie hinaus aus New York, wo beide in wohlhabenden Verhältnissen leben, in ein nobles Ferienhaus irgendwo im Wald, das die Sterbende als Ort für ihren Tod ausgesucht hat. Dort gehen die Freundinnen spazieren, reden, tauschen Erinnerungen und Erfahrungen aus und schauen sich alte Filme an, „Sieben Chancen“ von Buster Keaton und „The Dead“ von John Huston. Bis die Kranke sich schließlich entscheidet, dass sie für den letzten Schritt bereit ist.
Wenn jemand diesen Stoff zum großen Melodram ausbauen kann, dann Pedro Almodóvar. Doch der verweigert sich hier auf auffällige Weise seinem Lieblingsgenre. Melodramatisch geht es in „The Room Next Door“ nur in Rückblenden zu. Ein Handlungsstrang kreist um die Beziehung der Kranken zu ihrer entfremdeten Tochter und rollt genüsslich dick auftragend die tragisch endende Liaison auf, der diese Tochter entstammt. Wenn es um den Freitod der Mutter geht, bleibt die Inszenierung dagegen geradezu cool und hegt den Sterbeprozess mit einem wahren Design-Overkill ein: Die Räume, in denen sich die beiden Freundinnen bewegen, sind perfekt durchgestylt, und auch die Erscheinung der beiden Frauen steht dem in nichts nach. Die Sterbende, so abgezehrt und so blass, dass sie fast durchscheinend wirkt, kann zwar die Krebszellen in ihrem Körper nicht unter Kontrolle halten, doch ihre Outfits und alles andere sehr wohl, und das bis zum Ende. Ihre Freundin findet sie schließlich tot auf einer Liege am Pool – so makellos arrangiert, als sei es ein Gemälde von Edward Hopper.
Diese Stil-Wütigkeit ist hier nicht nur Oberfläche, sondern sie hat Methode. Als Drama über das Thema Euthanasie und die Debatte um die Legalisierung von Medikamenten, die Todkranken ein selbstgewähltes Sterben ermöglichen, bleibt der Film eher flach und hinterfragt die Entscheidungen der Protagonistin nicht wirklich. Doch als Hommage auf weibliche Souveränität und Gestaltungshoheit reißt „The Room Next Door“ durchaus mit. Almodóvar und seine beiden Schauspielerinnen stellen mit Verve zwei Frauenfiguren aus jener Altersgruppe ins Zentrum, die im Kino lange Zeit nur als liebe Oma, schrullige Alte oder Hexe einen Platz fanden, und präsentieren sie als unabhängige und kluge Macherinnen, die ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gelebt und ausgekostet haben, und die eine unterstützt nun die andere dabei, den Tod als Teil dieses souveränen Lebens zu gestalten. Und anstatt den Protagonistinnen im Angesicht des nahen Endes Reue oder kathartische Erkenntnisprozesse abzuverlangen, feiert „The Room Next Door“ schlicht ihre Solidarität untereinander.
Das Land als Kapital
Während „Queer“ und „The Room Next Door“ um die Zweisamkeit von Figuren kreisen und von Menschen erzählen, die angesichts existenzieller Abgründe die Nähe eines anderen suchen, erzählt Athina Rachel Tsangari in „Harvest“ von einer zerbrechenden Gemeinschaft. Der Film ist ein im Britannien der Neuzeit angesiedeltes Historiendrama, allerdings mehr eine ins Zeitlose spielende Gesellschaftsparabel denn realistisches Geschichtskino.
Es geht um eine bäuerliche Dorfgemeinschaft, die zwei Tagesritte entfernt vom nächsten Marktflecken weitgehend autark vor sich hinlebt und sich unter der milden Herrschaft des lokalen Lords von Viehzucht und Feldarbeit ernährt. Auf Fremdes reagieren die ansonsten friedlichen Seelen abwehrend bis feindlich. Doch gegen das, was auf sie zukommt, helfen weder der lokale Pranger noch drohend erhobene Mistgabeln. Denn ein anderer Herrscher erhebt Anspruch auf das Land und plant Veränderungen, um mehr Profit aus dem Grund und Boden zu holen, was die Lebensart und -grundlage der Dörfler zu zerstören droht.
Geschildert ist der daraus erwachsende Konflikt aus der Sicht eines Mannes (Caleb Landry Jones), der als Kindheitsfreund des Lords und Zugezogener in der Dorfgemeinschaft zwischen alle Stühle zu geraten droht. Athina Rachel Tsangari macht aus diesem Stoff eine zwischen Tragikomik und Bitterkeit changierende Fabel über die Genese von Besitzverhältnissen, in denen das Land nicht mehr primär Heimat und Lebensgrundlage ist, sondern Kapital. Dabei vermeidet sie es, die Lebensweise, die dabei hinweggefegt zu werden droht, zum Idyll zu verklären. Aber sie setzt trotzdem beißend die Ungerechtigkeit ins Bild, die den Menschen widerfährt und das, was über Generationen gewachsen ist, so unerbittlich wie ein Wetterumschwung auslöscht.