© Komplizen Film (Angelina Jolie in "Maria")

Venedig 2024: Von Göttlichen & Gefallenen

Nachrichten vom Lido – erste Filme von Alfonso Cuarón und Pablo Larraín

Veröffentlicht am
10. September 2024
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Mit der Premiere von Pablo Larraíns Maria-Callas-Porträt „Maria“ hat das Rennen um die „Goldenen Löwen“ des 81. Filmfestivals in Venedig mit großem Gefühlsüberschwang begonnen. Für Aufsehen sorgte aber auch Alfonso Cuarón mit der Serie „Disclaimer“, in der Cate Blanchett nach „Tár“ einmal mehr als Erfolgsfrau glänzt, der ein tiefer Fall droht.


Geschichten können Wunder bewirken, sie können aber auch Waffen sein. In den letzten Jahren ist immer öfter von „Narrativen“ die Rede, von kollektiven Erzählungen, mit denen Menschen das deuten, was um sie herum geschieht. Bei Instagram posten Millionen nicht einfach Bilder, sondern „Stories“. Überall summen Erzählungen. Auch am Lido von Venedig. Eine davon macht mit Alfonso Cuaróns Serie „Disclaimer“ das Erzählen selbst zum Gegenstand einer Geschichte.

Das siebenteilige Werk, das im Oktober bei Apple TV+ online erscheint, kreist um eine Gruppe von Figuren, deren Schicksale sich durch einen tragischen Todesfall berühren. Der alte Stephen Brigstocke (Kevin Kline) war früher ein beliebter Lehrer. Doch mittlerweile ist er nur noch ein resignierter Schatten seiner selbst. Er beginnt, die Hinterlassenschaften seiner schmerzlich vermissen, vor Jahren an Krebs verstorbenen Ehefrau (Lesley Manville) durchzusehen. In einer Schublade stößt er auf einen Stapel Papiere. Es ist das Manuskript eines Romans mit dem Titel „The Perfect Stranger“, der zusammen mit kompromittierenden Fotos ein neues Licht auf einen anderen großen Verlust wirft, der Brigstockes Leben überschattet.

Leslie M in "Disclaimer (Pablo Larraín)
Lesley Manville in "Disclaimer (© Apple TV+)

Wechselnde Perspektiven

Vor rund 20 Jahren hatte das Ehepaar seinen damals 19-jährigen Sohn verloren, der beim Urlaub in Italien ertrunken ist, als er ein Kind retten wollte. In dem Manuskript und auf den Fotos geht es um die Liebesaffäre des Sohnes mit Catherine (Cate Blanchett), einer verheirateten Frau, die der Junge damals im Urlaub kennenlernte, und um den Unfall, bei dem er für den fünfjährigen Sohn seiner Liebschaft sein Leben riskierte. Aber auch um die unrühmliche, ja schuldhafte Rolle, die Catherine bei seinem Ertrinken gespielt haben soll.

Wie der „Disclaimer“ vorab andeutet, jene Notiz, in der normalerweise steht, dass alle Ähnlichkeiten mit lebenden Menschen rein zufällig seien, sind die handelnden Personen und Ereignisse hier keineswegs fiktiv. Brigstocke macht es sich in der Folge zu seiner Mission, Catherine Ravenscroft, die mittlerweile eine erfolgreiche, gerade mit einem wichtigen Preis geehrte Journalistin ist, für ihre Verstrickung in den Tod seines Sohnes zu bestrafen. Und zwar indem er das Manuskript im Eigenverlag herausbringt und es strategisch darauf anlegt, ihre Reputation und ihre Beziehungen zu zerstören.

Dass ausgerechnet das alte Medium Buch zu einem Instrument werden kann, um eine versierte Medienschaffende wie Ravenscroft zum Straucheln zu bringen, ist eine der sinistren Volten, die Alfonso Cuarón in die Serie einbaut, die auf dem Roman „Deadline“ der britischen Autorin Renée Knight fußt. Obwohl er vom Fernsehen nichts verstehe, wie Cuarón bei der Pressekonferenz in Venedig einräumte, entwirft er einen tragfähigen Spannungsbogen, der sich bis zur Folge 7 immer mehr zum Thriller verdichtet. Die Handlungsstränge werden dabei auf zwei Zeitebenen zu einem dubios schillernden Erzählgewebe verwoben: der Gegenwart, in der Brigstocke seinen Feldzug gegen Ravenscroft startet, und der Vergangenheit jenes tragisch endenden Urlaubs vor 20 Jahren.


Der „Benefit of the doubt“

Doch unabhängig vom Medium, in dem erzählt wird, braucht es stets auch ein Publikum, das bereit ist, sich die vermittelten Haltungen und Wertungen zu eigen zu machen, um einer Geschichte ihre Wirkkraft zu geben. Der Sockel, auf dem die Schriftstellerin zu Beginn noch steht, kommt in „Disclaimer“ nicht nur durch das kompromittierende Material ins Wanken, sondern insbesondere auch durch die Bereitschaft ihres Umfelds, mit an dem Podest zu rütteln.

Cate Blanchett, Sacha Baron Cohen in "Disclaimer" (Pablo Larraín)
Cate Blanchett, Sacha Baron Cohen in "Disclaimer" (© Apple TV+)

Der Großteil der Spannung, die die Serie durchzieht, speist sich daraus, dass einem schnell dämmert, lieber vorsichtig zu sein, mit wem man hier sympathisiert oder wem man Glauben schenkt. Die Kombination der unterschiedlichen Figurenperspektiven, auch durch den Einsatz von Voice-over, und vor allem der Rückblenden in die Vergangenheit, bei denen man nie weiß, ob sie das wirkliche Geschehen, Ravenscrofts Erinnerungen oder das Manuskript „The Perfect Stranger“ bebildern, halten in beständiger Ungewissheit und verändern immer wieder den Blick auf die Figuren.

„Disclaimer“ ist ein Plädoyer dafür, Narrative zu hinterfragen, im Zweifelsfall mit Urteilen zurückhaltend zu sein und lieber auf das zu setzen, was man auf Englisch so schön den „Benefit of the doubt“ nennt.

Dass die Serie, die von den Kameramännern Emmanuel Lubezki und Bruno Delbonnel in durchweg leinwandtaugliche Bilder gesetzt wird, auf einen finalen Twist zuläuft, der zwar nervenzerrend ist, aber die zuvor konstruierte Komplexität auf eine allzu eindimensionale Auflösung reduziert, ist ein Wermutstropfen. Doch das brillante Darstellerensemble sorgt dafür, dass „Disclaimer“ trotzdem bis zum Ende fesselt.


Viva la Diva

Um die Interpretationshoheit über eine weibliche Lebensgeschichte geht es auch in dem Film, der den Wettbewerb um die „Löwen“ eröffnete, die in diesem Jahr von einer internationalen Jury unter Isabelle Huppert als Vorsitzender vergeben werden und der außerdem James Gray, Andrew Haigh, Agnieszka Holland, Kleber Mendonça Filho, Abderrahmane Sissako, Giuseppe Tornatore sowie Julia von Heinz und Zhang Ziyi angehören. „Maria“ ist das in der Titelrolle mit Angelina Jolie besetzte Maria-Callas-Porträt von Pablo Larraín, das neben der Crew des Eröffnungsfilm „Beetlejuice, Beetlejuice“ und Cate Blanchett in silbriger Robe dafür sorgte, dass die „Mostra“ zum Festivalauftakt mit Star-Power strahlte.

Der Film hält auch qualitativ das Niveau von Larraíns vorhergehenden Porträts weiblicher Ikonen des 20. Jahrhunderts, „Jackie“ über Jackie Kennedy und „Spencer“ über Lady Di. "Maria" ist nicht der Versuch, sich den letzten Tagen der großen Sopranistin – der Film spielt in Paris im Jahr 1977 – möglichst nah an den Fakten entlang anzunähern; sondern ist selbst große Oper: Eine Fantasie darüber, wie „La Callas“, die 1977 längst nicht mehr auftritt und kaum noch soziale Kontakte pflegt, darum kämpft, das Subjekt ihrer eigenen Geschichte zu bleiben und das Zepter auf der Bühne ihres Lebens in den eigenen Händen zu behalten, trotz Medikamentensucht und eines 53-jährigen Körpers, der immer mehr an seine Grenzen kommt.

Angelina Jolie in "Maria" (Pablo Larraín)
Angelina Jolie in "Maria" (© Pablo Larraín)

Die Kamera begleitet sie dabei, wie sie fragil, aber mit ungebrochener Grandezza durch ihre luxuriöse Wohnung und ein in goldene September-Melancholie getauchtes Paris schreitet, während ihre Tage zwischen Traum und Realität verschwimmen. Ein junger Journalist, der so heißt wie ihre bevorzugte Droge und mehr eine Art Todesengel als eine reale Figur ist, wird zum Adressaten ihrer letzten Selbstdarstellung. Und entgegen der ärztlichen Warnungen erprobt sie mit Hilfe eines Pianisten, wie viel „La Callas“ sie ihrer Stimme noch abringen kann. Dabei begegnet sie immer wieder ihrer eigenen Vergangenheit; die Erinnerungen schieben sich in die Gegenwart.


Der letzte Akt vor der Unsterblichkeit

Larraín arbeitet dabei nicht nur mit optischen Rekonstruktionen ihrer legendären Bühnenauftritte, sondern auch mit der Rekonstruktion des Gesangs der „Diva assoluta“, wobei die Tontechniker hier ganze Arbeit geleistet haben. Ähnlich wie in „Spencer“ sind auch in „Maria“ die Dienstboten die wichtigsten Anspielflächen und Vertrauten, die der Heldin geblieben sind. Wirklich erreichen können die bodenständigen Geister sie aber nicht. Während das Hausmädchen (Alba Rohrwacher) und der Butler (Pierfrancesco Favino) noch meinen, es gehe um Leben und Tod, wenn sie Maria dazu zu bewegen versuchen, mehr zu essen, weniger Pillen zu schlucken und den Termin mit dem Doktor einzuhalten, bereitet sich Callas längst auf etwas ganz anderes vor: den letzten Akt auf dem Weg in die Unsterblichkeit.

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