© Film Kino Text (aus "Gagarin - Einmal schwerelos und zurück")

Wie ein verlassenes Raumschiff - Interview mit Fanny Liatard und Jérémy Trouilh

Ein Interview mit Fanny Liatard und Jérémy Trouilh über ihren Film „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“

Veröffentlicht am
04. September 2024
Diskussion

In ihrem Film „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück, der wegen Corona-bedingter Verzögerungen erst jetzt den Weg in die deutschen Kinos findet, erzählen die Filmemacher Fanny Liatard und JérémyTrouilh eine Coming-of-Age-Geschichte an einem ganz besonderen Ort: der nach dem russischen Kosmonauten Juri Gagarin benannten Cité Gagarine bei Paris. Das Filmemacher-Paar, das sich während des Studiums der Politikwissenschaften in Bordeaux kennenlernte und drei Kurzfilme gedreht hatte, realisierte ihr Langspielfilmdebüt „Gagarin“ bereits im Jahr 2020. Beim Interview hatten sie ihr nur wenige Monate altes Baby dabei, das Fanny Liatard während des Gesprächs stillen musste, so dass am Ende nur noch Jérémy Trouih die Antworten gab.


Die Cité Gagarine hat Sie vor Ihrem Spielfilm ja schon in einem Kurzfilm beschäftigt. Was faszinierte sie an dieser Vorstadt-Siedlung

Fanny Liatard: Ende 2014 beschlossen Jérémy und ich, für eine Weile nach Paris zu ziehen. Freunde aus der Pariser Vorstadt Ivry-sur-Seine baten uns, sie zu besuchen und dort vielleicht einige dokumentarische Videos über die Einwohner der Gagarine-Siedlung zu drehen. Wir waren von der Architektur mit roten Backsteinen sofort beeindruckt. Dann erfuhren wir, dass man diese Siedlung abreißen wollte und dass es Juri Gagarin, der erste Mann im Weltall, war, der diese Neubausiedlung einst eingeweiht hatte. So bekamen wir schnell Lust auf einen Kurzspielfilm mit einem Astronauten als Hauptfigur. Die Cité Gagarine hatte aber einen schlechten Ruf; die Einwohner von Ivry wollten dort nicht leben. Wir hatten deshalb ein Interesse, uns von der Siedlung auch abzuheben.


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Was haben Ihnen die Bewohner der Cité Gagarine erzählt?

Fanny Liatard: Sie hatten einen großen Teil ihres Lebens innerhalb dieser Mauern verbracht und verbanden diesen Ort mit intensiven, auch schönen Erinnerungen. Sie hingen an der Gagarine-Siedlung, waren aber auch nicht unglücklich, wenn sie fortzogen. Wir wollten ihnen eine Hommage widmen. So erfanden wir die Figur von Youri, einem Jugendlichen mit großen Träumen. Er kämpft um seine Siedlung und seinen Traum bis zum Schluss. Der Kurzfilm war gleichzeitig auch ein Coming-of-Age Film mit der Frage: Wie wird man erwachsen, wenn man sich seine Jugendträume bewahren möchte?

Wie sind Sie dann auf die Idee gekommen, aus dem Stoff nach dem 15 Minuten langen Kurzfilm einen abendfüllenden Spielfilm zu machen?

Jérémy Trouilh: Es ist uns in den 15 Minuten nicht gelungen, deutlich zu machen, warum Youri diese Siedlung so wichtig ist. Wir wollten uns im Langspielfilm die Zeit nehmen, von den Nachbarn und der Gemeinschaft zu erzählen, in der Youri aufwuchs. Die steht nämlich für seine Träume und ist seine Familie. Uns war auch diese Dualität wichtig. In einer Neubausiedlung der Banlieue wie Gagarine, die in die Jahre gekommen ist, herrscht durchaus Armut; einige Einwohner fühlen sich an den Rand gedrängt. Aber es gibt eben auch einen anderen, sehr wichtigen Aspekt. Man kennt sich, hat dort seine besten Freunde, seine Liebsten getroffen, es leben die Großeltern dort oder die Familie. Man hängt an dieser Vorstadtsiedlung, weil man dort so viel Lebenszeit verbrachte.

Porträt einer Siedlung, díe es nicht mehr gibt: "Gagarin" (© Film Kino Text)
Porträt einer Siedlung, díe es nicht mehr gibt: "Gagarin" (© Film Kino Text)

Sie erwähnten, dass die Siedlung im Laufe der Jahre in einen schlechten Ruf geriet. Anfangs aber war die Cité doch sehr modern und ein Ort, an den viele Menschen ziehen wollten.

Fanny Liatard: Man sieht das in den Archivbildern, mit denen der Film beginnt. In den 1960er-Jahren gab es in Paris und anderen Großstädten noch viele Barackensiedlungen, richtige Elendsviertel. In eine Siedlung wie die Cité Gagarine zu ziehen, erschien als Gipfel der Modernität. Es gab in Wohnungen Toiletten; das war sensationell. Und außerdem auch noch ein Badezimmer. Als auch noch Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall, diese Wohnsiedlung eröffnete, herrschten große Freude und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Heute reißt man solche Wohnkomplexe wieder ab, und dann denken viele gleich an einen Misserfolg. Aber wir sehen das nicht so. Wir erzählen gerne die kleinen Lebensgeschichten, die sich dort ereignen.

Jérémy Trouilh: Obwohl die Siedlung in ihrer Zeit einen großen Fortschritt darstellte, vor allem im Gegensatz zu den echten Elendsvierteln, die es damals gab, hat man auch vieles falsch gemacht und schlecht gebaut. So liegt Gagarine neben der S-Bahn, dem R.E.R. Man baute sehr schnell, aber nicht mit dem besten Material. Dadurch alterten die Gebäude in kurzer Zeit. Bei anderen Siedlungen wurde das besser gemacht, etwa beim Wohnkomplex Maurice Thorez, einem architektonischen Doppelgänger der Cité Gagarine, der davor entstanden war. Diese Wohnsiedlung wird auch nicht abgerissen. Man darf also nichts idealisieren, wenn es um die Neubauten der 1960er-Jahre geht. Es gab schon damals zu wenig finanzielle Mittel für Menschen, die in einer gewissen Prekarität leben.

Sie durften bis zum Ende in der Gagarine-Siedlung drehen. Wie erhielten Sie dafür eine Drehgenehmigung?

Jérémy Trouilh: Das war eine große Herausforderung. Für einen Erstlingsfilm braucht man immer etwas länger, selbst beim Schreiben des Drehbuchs. Wir wussten, dass es 2019 mit der Siedlung vorbei sein wird. Wir hatten Glück, dass die komplette Finanzierung des Films schon stand, ehe die Siedlung abgesperrt wurde. Als wir mit den Dreharbeiten im Juli 2019 begannen, lebte niemand mehr in Gagarine. Alles war abgesperrt und schon eine Baustelle mit vielen Arbeitern, die uns aber einen kleinen Teil der Siedlung zur Verfügung stellten. Es war uns wirklich wichtig, an diesem echten Drehort den ganzen Sommer über zu drehen. Das war viel mehr als nur Symbolik.

Gedreht wurde vor Ort kurz vorm Abriss der Siedöung Gagarine (© Film Kino Text)
Gedreht wurde vor Ort kurz vorm Abriss der Siedlung Gagarine (© Film Kino Text)

Der Film „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ ist eine Mischung aus Märchen und realistischem Drama, über den Traum vom All und den Kampf um das Lebensnotwendige. Wie sind Sie die großen erzählerischen Herausforderungen des Films angegangen?

Jérémy Trouilh: Schon beim ersten Mal, als wir in der Siedlung waren, kam uns die Idee, dort eine Fiktion zu drehen. Uns schwebte ein großes Epos vor, eine Reise durch das Weltall, die gleichzeitig in der Realität verankert sein sollte. Daher verbrachten wir sehr viel Zeit mit den Bewohnern. Insgesamt schrieben wir vier Jahre lang am Drehbuch und freundeten uns in dieser Zeit mit vielen der Bewohner an. Zu Beginn war die Siedlung noch voller Menschen. Nach und nach leerte sie sich dann. Gegen Ende wirkte der Ort wie ein verlassenes Raumschiff. Dort konnten wir bis kurz vor dem Abriss drehen. Noch in der Drehbuchphase hatten wir mit den Jugendlichen vor Ort Workshops durchgeführt, in denen sie von sich und ihren Wünschen und Träumen erzählten. Auch wenn Youri eine fiktive Figur ist, entstand er doch aus diesen Gesprächen. Schon bei den Dreharbeiten und später auch im Schneideraum war es wichtig, das richtige Gleichgewicht zu finden. Es ist ein Film mit einem realistischen, sogar dokumentarischen Ansatz, aber wir schaffen auch Raum für sehr spielerische Elemente und finden Spaß daran, auch mal einen Klassiker zu evozieren wie Stanley Kubricks „2001“, Andrej Tarkowskis „Solaris“ oder Ridley Scotts „Blade Runner“.

Wie haben Sie sich dieses erzählerische Gleichgewicht zwischen Realität und überhöhter Realität gedacht?

Jérémy Trouilh: Die Lösung bestand darin, alles aus dem Blickwinkel von Youri zu filmen. Er sieht seine Siedlung als Raumschiff. Zunächst ist es seine Vorstellungskraft, dann wird es zunehmend zu einem Fluchtort, und je mehr er sich da hineinsteigert und wirklich glaubt, auf einem Raumschiff zu leben, umso mehr wird es zu einer Art Wahn. Dafür galt es, kleine Geschichten zu finden, die verdeutlichen: Youri sieht die Dinge etwas anders. So wähnt er sich schwerelos, als im Treppenhaus ein Brand ausgebrochen ist, vor dem die Bewohner flüchten. Das haben wir dann auch so gefilmt.

Realität und überhöhte Realität spielen ineinander (© Film Kino Text)
Realität und überhöhte Realität spielen ineinander (© Film Kino Text)

Ihr Film ist durchzogen von kleinen Anspielungen. So singt Denis Lavant gerne auf Russisch. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Jérémy Trouilh: Wir sind beide große Filmfans von Léos Carax, vor allem von seinen Filmen „Die Nacht ist jung“ und „Die Liebenden vom Pont-Neuf“. Deshalb war es großartig, Denis Lavant für einen Tag am Set zu haben. Er verkörpert einen etwas geheimnisvollen Menschen, der inmitten eines verlassenen Industriestandortes lebt, in dem es einen riesigen Kran gibt. Unser Tonmann glaubte, dass Denis Lavant Russisch singen kann. Als er dann gut vorbereitet zu seinem einzigen Drehtag kam, war das für uns fast surreal, dass er den Text sprechen würde, den wir für ihn geschrieben hatten. Er kannte tatsächlich einige russische Lieder, sogar Arbeiterlieder. Das brachte uns auf die Idee, ihm etwas auf Russisch beizubringen, das dann wie ein Code funktioniert.

Seit einigen Jahren gibt es vermehrt Filme und Serien über Astronauten oder Kosmonauten, etwa „Proxima“ mit Eva Green oder „Away“. Die Ansätze sind zwar alle verschieden, aber ich frage mich dennoch, woher dieses große Interesse an Weltraumgeschichten rührt?

Jérémy Trouilh: Hat nicht jeder Filmemacher Lust, auch mal einen Science-Fiction-Film zu drehen? Bei uns war es nun sogar unser Debütfilm! Aber auch in Zukunft haben wir Ideen für weitere Filme in diesem Genre. Es geht ja oft um eine Flucht aus der Realität, und häufig ist das sehr metaphysisch. Es geht um die Unendlichkeit des Raums, das Verhältnis zu uns Menschen. Das Schöne an Science-Fiction-Filmen ist ihre Einmaligkeit, weil jeder Regisseur, jede Regisseurin eine andere Sensibilität und Persönlichkeit mit einbringen. Kubrick und Tarkowski schufen eigenwillige, halluzinatorische Welten, und doch erkennt man in „2001“ oder „Solaris“ ihre ganz persönliche Handschrift. Ebenso wie bei Claire Denis und „High Life“, der in einem Raumschiff spielt und doch ein Claire-Denis-Film ist. Der Garten aus „High Life“ hat uns übrigens sehr inspiriert.

Wenn wir von „Solaris“ und Andrej Tarkowski sprechen, bekenne ich, dass dies sein zugänglichster, auch sein sinnlichster Film war.

Jérémy Trouilh: Man kann „Solaris“ sehr viel besser folgen als beispielsweise „Stalker“. Für uns war „Solaris“ als Referenz deshalb wichtig, weil der Film so organisch ist. Der Film hat auf der anderen Seite etwas sehr Schmutziges, Lebendiges. Genau da wollten wir auch mit „Gagarin“ hin. Es sollte ein Science-Fiction-Film sein, der in einer Siedlung spielt. Deshalb durfte der Garten auch nicht mehr so perfekt sein wie bei Claire Denis, sondern voller Krimskrams und zerbrechlich. „Solaris“ und „Gagarin“ ist gemeinsam, dass ihre Hauptfiguren immer verrückter werden und sich in mentale Zustände flüchten, um zu überleben.

Fanny Liatard ·und Jérémy Trouilhm (© Film Kino Text/Filmfest Zürich)
Fanny Liatard  und Jérémy Trouilhm (© Film Kino Text/Filmfest Zürich)

Wie teilen Sie sich die Arbeit auf?

Jérémy Trouilh: Wir machen alles zusammen. Es gibt keine Arbeitsteilung. Wir haben Freude daran, zu zweit zu arbeiten. Wir müssen nur gut vorbereitet sein, wenn wir am Set mit unserem Team arbeiten. Besonders wichtig ist uns die Zusammenarbeit mit unserem Kameramann. Natürlich bemühen wir uns, zusammen und jeder für sich, um einen ganz besonderen Draht zu unseren Schauspielern. Aber wir diskutieren auch, um die Szene zu verbessern, und dann redet der eine mit den Schauspielern und der andere mit dem Kameramann. Danach wechseln wir einander ab. Aber wir lassen uns nicht zu sehr aus den Augen.

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