© Basis/Edition Filmmuseum (aus „Klassenverhältnisse“)

Der Kino-Autor: Franz Kafka und das Medium Film

Über den Einfluss des frühen Kinos auf das Werk von Franz Kafka. Und dessen Einfluss auf das Filmschaffen. Zum hundertsten Todestag des Schriftstellers

Veröffentlicht am
10. September 2024
Diskussion

„Sich am Leben erhalten für den Kinematographen“, schrieb Franz Kafka in sein Tagebuch. Diese und viele weitere Notizen weisen den berühmten Schriftsteller als Filmbegeisterten der ersten Stunde aus. Sie bezeugen aber auch den Einfluss des frühen Kinos auf seine literarischen Werke. Die filmische Struktur seiner abgründigen Texte lässt ihre Verfilmungen naheliegend erscheinen, und auch ihr Autor selbst ist mit seinem schillernden Leben eine dankbare Filmfigur. Eine Passage durch die fruchtbare Beziehung von Kafka und dem Kino.


Franz Kafka liebte das Kino. Er hielt sich oft in Filmtheatern auf, zu einer Zeit, in der das recht neue Medium noch als Rummelplatzattraktion verrufen war. Anders als beim Fußball, einem ursprünglich bürgerlichen Hobby, an dem nach und nach auch das Proletariat Gefallen fand, war es beim Kino bekanntlich andersherum. Zwar waren die Gebrüder Lumière, die 1895 zum ersten Mal bewegte Bilder unter die Menschen brachten, reiche Fabrikantensöhne. Doch beim Bildungsbürgertum hatte das neue Medium einen extrem schweren Stand.

Sowohl in seiner Heimatstadt Prag als auch auf Reisen besuchte der frühe Cineast Kafka zusammen mit seinem Freund Max Brod nicht nur zahlreiche Vorstellungen. Mehr noch: Kafkas Texte können als „das Resultat einer ästhetischen Verarbeitung“ des frühen Kinos gelesen werden – sie sind „kinematographisch organisiert“, wie es der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt in seinem Buch „Kafka und der Film“ ausdrückt. In manchen Passagen der Erzählung „Ein Brudermord“ erkennt Alt „den Charakter pathetisch gesteigerter Zwischentitel“. „Man muss sich am Leben erhalten für den Kinematographen“, notierte Kafka einmal in sein Tagebuch.


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„Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt“, heißt es darin ein andermal. Das erinnert an das hartnäckige Gerücht, Lumières erste Zuschauer hätten sich beim Anblick der herannahenden Lokomotive panisch aus dem Saal geflüchtet. Diesem Phänomen lag eine spezifische Eisenbahnangst zugrunde, welche Sigmund Freud den Situationsphobien zurechnete. Im dritten Oktavheft hält Kafka fest: „Wir sind... in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in einem langen Tunnel verunglückt sind, und zwar an einer Stelle, wo man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes aber nur so winzig, daß der Blick es immerfort suchen muß und immerfort verliert... Was soll ich tun? oder Wozu soll ich es tun? sind keine Fragen dieser Gegenden.“

Franz Kafka (1883-1924) (© IMAGO/Zoonar)
Franz Kafka (1883-1924) (© IMAGO/Zoonar)

Figuren im Strom

Als filmspezifisch gilt es, Momentaufnahmen von Bewegung ins Zentrum zu rücken, ohne Intentionen oder Kausalitäten aufzuhellen. Das ist gerade das Beunruhigende: Die Figuren sind im Strom. Es ist müßig, Motivlagen aufzuhellen, denn die Figuren treffen ihre Entscheidungen ja nicht selbst – sie werden für sie getroffen. „Seine Texte sind darauf angelegt, dass er fürchten muss, das Erzählte käme auf ihn wie Lokomotiven in der jüngsten dreidimensionalen Filmtechnik“, schrieb schon Theodor W. Adorno in seinen „Aufzeichnungen zu Kafka“. Neben dem zeitgenössischen Verweis auf die damals erste Welle von 3-D-Filmen (von denen Hitchcocks „Bei Anruf Mord“ vermutlich der bekannteste ist) erstaunt, dass auch Adorno schon der enge Bezug Kafkas zum bewegten Bild auffiel.

Adorno nannte die Romane des Prager Schriftstellers „die letzten, verschwindenden Verbindungstexte zum stummen Film...“ Sein darauffolgender Klammernachsatz („... der nicht umsonst fast genau gleichzeitig mit Kafkas Tod verschwand“) klingt rätselhafter Weise so, als ob Adorno dem Autor neben seinem eminenten literarischen Einfluss auch noch den Untergang des Stummfilms zurechnete.

Die große Gemeinsamkeit von Kafka und dem frühen Kino war also, dass ihnen jedes Psychologisieren fremd war. Das war nicht nur auch ein Merkmal der bildenden Kunst, sondern auch des deutschen Stummfilms. Der drei Jahre nach Kafkas frühem Tod auftauchende Tonfilm hat die Wahrnehmung und auch die Möglichkeiten des Mediums dann nochmals verändert. Zunächst aber war es das Veranschaulichen von Bewegung, das den Film interessant machte.

Jeremy Irons in Steven Soderberghs Fantasie „Kafka“ (© IMAGO / Ronald Grant)
Jeremy Irons in Steven Soderberghs Fantasie „Kafka“ (© IMAGO / Ronald Grant)

Auch wenn einige Erzählungen wie die berühmte „Verwandlung“ bereits zu Lebzeiten erschienen und der junge Schriftsteller Aufsehen erregte – der große literarische Ruhm ereilte Franz Kafka erst posthum. Bereits 1934 erkannte Walter Benjamin eine Parallele zwischen Kafka und Chaplin: die „schriftstellerische Haltung mit einer ans Kunstlose grenzenden Schlichtheit“. Auch der Telegrammstil, die Auslassungen und Andeutungen lassen einen bei Kafka-Texten bisweilen an Drehbücher denken. Erzählt wird durch den Schnitt. Man braucht sich nur einmal zu vergegenwärtigen, aus wieviel Hinzugedachtem ein Film besteht.


Schriftsteller voller Filmbegeisterung

Hanns Zischler hat in seinem jüngst wiederaufgelegten Buch „Kafka geht ins Kino“ die Filmbegeisterung des Schriftstellers detailliert nachgezeichnet. In der „Edition Filmmuseum“ gibt es eine DVD-Edition gleichen Namens. Viele der darin enthaltenen Filme sind dokumentarisch. Ein Großteil ihrer damaligen Faszination mag der relativen Jugend des Mediums geschuldet sein. Eine Wochenschau über die 300-Jahr-Feier der russischen Zaren-Familie Romanow nimmt sich heute ungeheuer öde aus. Ganz anders die Flugschau in Brescia, die sich Kafka 1909 sogar vor Ort anschaute. Er war Zeitzeuge mehrerer technischer Revolutionen: Nicht nur das Kino, auch die Luftfahrt und das Automobil waren gerade erst erfunden worden. Kafka besuchte diese erste internationale Flugschau in Italien gemeinsam mit Max Brod und dessen Bruder Otto – und schrieb über das Ereignis den in der Zeitung Bohemia („Unterhaltungsblätter für gebildete Stände“) erscheinenden Artikel „Die Aeroplane in Brescia“. Über die Frau des Ärmelkanal-Überfliegers Blériot fällt ihm ein: „Wenn ihr Mann nicht fliegen kann, ist es ihr nicht recht, und wenn er fliegt, hat sie Angst; überdies ist ihr schönes Kleid ein bißchen schwer für diese Temperatur.“

Ein konkreter filmischer Einfluss des frühen Films auf das literarische Werk Kafkas scheint sich besonders beim hinterlassenen Roman „Der Verschollene“ (auch als „Amerika“ bekannt) nachweisen zu lassen. Die dort beschriebene Verfolgungsjagd erinnert neben den Komödien von Mack Sennett vor allem an „Nick Winter et le vol de la Joconde“, einen Spielfilm über den Diebstahl des „Mona Lisa“-Gemäldes im Jahr 1911. „Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht.“ Die dem nachgelassenen Romanfragment vorangestellte und bereits 1916 erschienene Kurzgeschichte „Der Heizer“ bezeichnete Kafka selbst in seinem Tagebuch als „glatte Dickensnachahmung“. Er spielt damit auf Dickens’ Romanhelden David Copperfield an.

Das Cover zur DVD-Edition „Kafka geht ins Kino“ (© Edition Filmmuseum)
Das Cover zur DVD-Edition „Kafka geht ins Kino“ (© Edition Filmmuseum)

Kafka verfilmt

Das Regie-Paar Jean-Marie Straub/Danièle Huillet machte aus dem Romanfragment später eine marxistische Analyse. Der strenge Schwarz-weiß-Film „Klassenverhältnisse“ ist ein faszinierendes, aber auch sperriges Stück Film. Seine Dialoge enden verfrüht, das letzte Wort wird jeweils betont nachgeschoben – allerdings nicht von Mario Adorf, der Karls Onkel Jakob in klassischer Schauspielermanier spricht. Vom Veranschaulichen von Bewegung, ja von Bewegung überhaupt, ist allerdings wenig zu sehen. Die bewusst verfremdeten Dialoge trieben einen Kritiker zu der Polemik, dass Straub/Huillet ihrer „unglückseligen Neigung zur deutschen Literatur ein karges Laienstückchen in putzigem Aufsagedeutsch“ zugefügt hätten. Hier schien er das Filmemacher-Paar aber absichtlich für dumm zu halten.

Vielleicht liegt es auch an der filmischen Struktur der Texte, dass es so viele Kafka-Verfilmungen gibt. Mancher seiner Stoffe erscheint freilich einfach zu brachial: „In der Strafkolonie“ enthält die ausführliche Schilderung einer Tötungsmaschine, die Delinquenten ihre Vergehen in quälender Langsamkeit ins Fleisch schreibt. Das ist von einer Grausamkeit, dass sie bildlich auserzählt jeden Body-Horror übertreffen würde.

Aus Kafkas berühmtestem Werk „Der Prozess“ hat Orson Welles 1962 dagegen eine sehr eindrückliche Literaturverfilmung gemacht: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben.“ Der Film „Der Prozess“ beginnt wie der Roman mit K.s völlig überraschender Verhaftung und begleitet ihn fortan durch seinen aussichtslosen Kampf gegen eine Justiz, deren Gesetzmäßigkeiten ihm wie auch dem Zuschauer verborgen bleiben. Was zunächst wie ein klassisches Justizdrama klingt, inszeniert Welles in Schwarz-weiß als expressiven Film noir. Er spielt mit den Schatten, zeigt K. als Aussichtslosen in einem Kampf gegen eine auch räumlich erdrückende Gegenmacht. K. ist hier Anthony Perkins – zwei Jahre nach seiner Rolle als Norman Bates in „Psycho“ spielte er diesen Josef K. ähnlich getrieben. Nervös und wie ein typischer Unschuldiger versucht K. zunächst immer wieder herauszufinden, für was er eigentlich verhaftet wurde. Er begehrt auf, sucht Hilfe und geht schließlich doch zugrunde. „Der Prozess“ ist, auch dank seines grandiosen Ensembles (außer Perkins unter anderem Elsa Martinelli, Jeanne Moreau und Romy Schneider), die womöglich stärkste Kafka-Adaption. Orson Welles soll diese angemessen beklemmende Verfilmung allen anderen seiner Werke vorgezogen haben.

Anthony Perkins in Orson Welles' „Der Prozess“-Verfilmung (© StudioCanal)
Anthony Perkins in Orson Welles' „Der Prozess“-Verfilmung (© StudioCanal)

„Es war spätabends, als K. ankam.“ Für einen Kafka-Text beginnt der unvollendete Roman „Das Schloss“ eher schmucklos. Ein neuer K., dieses Mal in den 1990er-Jahren, gespielt von Ulrich Mühe, ein Landvermesser. Aber ist er das überhaupt? Im Schloss scheint man nichts von ihm zu wissen. Aber wo soll dieses Schloss überhaupt sein? Regisseur Michael Haneke konzentrierte sich in seiner atmosphärischen Verfilmung auf die zunehmende Vereinsamung seiner Hauptfigur – die sich trotz all der sie umgebenden Hindernisse aber eine erstaunliche Hartnäckigkeit bewahrt. Auch hier beeindruckt neben der Inszenierung die aus früheren Filmen Hanekes teils schon vertraute Besetzung (Susanne Lothar, Nikolaus Paryla, Frank Giering).

Außerdem zeigen beide Filme eines: In diesem Jubiläumsjahr wird immer mal wieder behauptet, der Humor sei in Kafkas Werk erst kürzlich entdeckt worden – was eine sehr gewagte Behauptung ist, wenn man beispielsweise an die sich unter Bänken versteckenden Rechtsanwälte in „Der Prozess“ denkt. Als Filmfiguren bewahren sich sowohl Anthony Perkins als auch Ulrich Mühe lange einen gewissen Schalk. So deprimierend Kafkas Texte auch sein mögen, so komisch sind sie auch. Die Komik speist sich gerade aus dem, was man kafkaesk nennt: Der Einzelne sieht sich vollständig von Gesetzmäßigkeiten beherrscht, deren Logik sich ihm komplett verschließt.


Kafka als Filmheld

„Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und anderen.“ Dieser kaputtzitierte Spruch des kaum mehr geheimnisvollen Ludwig II. passt viel besser zu Franz Kafka. Von ihm existieren zahlreiche, extrem unterschiedliche Fotografien. Ungewohnt ist es aber, sich ein bewegtes Bild von ihm zu machen. Sieht man von losen Anlehnungen wie Steven Soderberghs Kriminalspielerei „Kafka“ mit Jeremy Irons einmal ab, der mit dem Schriftsteller wenig Ähnlichkeit aufweist. Kafka, das ist eine eigene Welt mit einer eigenen Atmosphäre, der man ausgeliefert ist und auf die man von außen keinen Zugriff bekommt. Das kann einen für bewegte Bilder des Autors misstrauisch machen. Vielleicht hat dieser Widerwille etwas mit dem schon von Adorno geäußerten Wunsch zu schaffen, „dem Rätsel standzuhalten“, sich ein „ungetröstetes So ist es“ zu verstetigen. Adorno klagte in seinen „Aufzeichnungen“ darüber, Kafka ereile der „falsche Ruhm, die fatale Variante des Vergessens“. Auch „das Behagen am Unbehaglichen“ missfiel ihm. Er sah den Schriftsteller von den Existenzialisten vereinnahmt, denen er eine vorschnell direkte Suche nach Sinn in Kafkas Texten vorwarf.

Die sechsteilige Serie „Kafka“ lotete jüngst den Schriftsteller neu aus (© NDR/Superfilm)
Die sechsteilige Serie „Kafka“ lotete jüngst den Schriftsteller neu aus (© NDR/Superfilm)

Der Filmtheoretiker André Bazin befand, das Theater sei ein falscher Freund des Kinos, während die Umsetzung einer Romanvorlage ein bestimmtes Maß an Kreativität erfordere. So gesehen ist ein biografischer Film über einen Schriftsteller, dessen Leben romanhaft erscheint, deren natürliche Fortsetzung.

Trotzdem: Der realen Person Kafka bewegtes Leben einzuhauchen, gleicht dem Unterfangen, einen Geist dingfest zu machen. Versuchen kann man es natürlich. David Schalko hat es jüngst in seiner süffigen TV-Serie mit Joel Basman in der Hauptrolle getan. Kafkas Kinobegeisterung kommt dort nicht vor. „Er schaut ganz anders aus, als man sich ihn vorstellt“: solche Einwände können gegen jede beliebige Literaturverfilmung ins Feld geführt werden. Das teilt die Figur Kafka mit einer klassischen Romanfigur, auch mit dem „Roman“ ihres eigenen Lebens. Die Verfilmung des geliebten Werkes kann man leicht als Spoiler empfinden, die des geliebten Autors erst recht. Bei der Lektüre hat man sich ein ganz eigenes Bild von diesen ganzen K.s verschafft, das als Abbild zwangsläufig enttäuscht werden muss.

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