Der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof und sein Film „The Seed of the Sacred Fig“ hielten das Politische doch nicht ganz von Cannes fern, was dem Festival einen bewegenden Abschluss bescherte. Nachhaltiger aber war das Bemühen, Filme zu zeigen, in denen die Perspektive von Frauen ins Zentrum rückt – und sei es in das der bravourösen Sexarbeiterinnen-Komödie „Anora“ von Sean Baker, die mit der „Goldenen Palme“ geehrt wurde.
Ganz geklappt hat es nicht mit der Absicht, politische Themen aus dem 77. Festival in Cannes (14.-25.5.2024) herauszuhalten. Zum Auftakt verkündete Cannes-Chef Thierry Frémaux noch, dass sich das Politische nur auf der Leinwand abspielen werde. Doch schon einen Tag zuvor war bekannt geworden, dass sich der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof auf der Flucht befinde. Dem mehrfach inhaftierten und mit Arbeits- und Ausreiseverboten belegten Filmemacher drohten erneut eine langjährige Haftstrafe und Peitschenhiebe. Deshalb zog nicht nur sein heimlich entstandener Film „The Seed of the Sacred Fig“ hohe Erwartungen auf sich, sondern auch Rasoulof selbst, der den Iran einen Monat zuvor zu Fuß verlassen hatte. Auf klandestinen Wegen floh er nach Hamburg, wo er seit vielen Jahren eine Art zweite Heimat gefunden hat und wo der von seinem Cutter Andrew Bird aus dem Iran geschmuggelte Film für die Cannes-Premiere fertiggestellt wurde.
Die Uraufführung von „The Seed of the Sacred Fig“ am vorletzten Tag des Festivals wurde dann nicht nur zu einem eindrücklichen Moment der Solidarität, mit der Rasoulofs Mut und Courage gefeiert wurde. Sondern auch zu einem filmischen Triumph. Während der Vorführung brandete mehrfach Szenenapplaus auf und mündete am Ende in überwältigende Standing Ovations. Für viele war das raffinierte Familien- und Gesellschaftsdrama der Höhepunkt des 77. Cannes-Festivals, dem sich auch die Internationale Jury nicht entziehen konnte und den Film mit einem Spezialpreis bedachte.
Das könnten Sie auch interessieren
- Cannes 2024 – Preise und Gewinner
- Cannes 2024 – Punk& Chansons
- Cannes 2024 – Ich auch!
- Cannes 2024 – Das Programm
Erzählt wird die Geschichte einer vierköpfigen Familie aus Teheran, die im Herbst 2022 nach dem Tod der jungen Iranerin Jina Mahsa Amini auseinanderbricht. Der Vater ist jüngst ans Revolutionsgericht berufen worden, was mit mehr Geld und einer größeren Wohnung für die Mittelstandsfamilie verbunden ist. Doch der Aufstieg ist auch mit dunklen Seiten verbunden. Im Zuge der Protestwelle muss er massenhaft Todesurteile unterschreiben, was er seinen beiden Töchtern tunlichst verheimlicht. Als diese dann ebenfalls in die Unruhen verwickelt werden und auch noch die Dienstwaffe des Vaters verschwindet, gerät das konservative Familienoberhaupt in einen Strudel, bei dem Paranoia und Misstrauen die Oberhand gewinnen. In einem einsamen Landhaus in den Bergen zwingt er seine Familie mit inquisitorischen Methoden vor laufender Kamera zu verhängnisvollen Geständnissen.
Das Private und das Politische verschwimmen dabei nicht nur in der Figur des diktatorischen Vaters, der sich immer mehr als fundamentalistischer Patriarch gebärdet. Beide ineinander verschlungenen Dimensionen durchdringen den Film auf unterschiedlichsten Ebenen, auch in der Verwendung dokumentarischer Aufnahmen der Proteste und der brutalen Gewalt der Polizei auf den Straßen. Der gesellschaftliche Riss geht quer durch die Familie; selbst die Mutter rückt zunehmend auf die Seite der Töchter, die den Vater immer mehr hinterfragen und seine Autorität in Fragen stellen. Das grundsätzliche Misstrauen des theokratischen Systems, das seine fragile Machtbasis mit offenem Terror gegen Andersdenke zu sichern versucht, zerstört die innersten Bande, die eine Familie – und eine Gesellschaft – zusammenhalten: das Vertrauen zu- und den Glauben aneinander.
Der Lockruf des Geldes
In diesem Punkt
berührt sich „The Seed of the Sacred Fig“ auch mit dem Gewinner der Goldenen
Palme“, dem US-amerikanischen Drama „Anora“ von Sean Baker,
allerdings genau in der entgegensetzten Richtung. Denn in dem furiosen Drama um
eine Striptease-Tänzerin geht es zunächst und ausschließlich um finanzielle
Belange. Dafür setzt die Protagonistin Nacht für Nacht ihren durchtrainierten Körper
ein, mit dem sie ihre Kunden eines Nachtclubs in Brooklyn in stille Räume
lockt. Erst recht will sie ihre Chancen nutzen, als sie ein verwöhnter
russischer Oligarchen-Sohn für eine ganze Woche als Escort bucht und aus einer
Laune heraus in Las Vegas gleich auch noch heiratet. Die beiden verstehen sich
beim Sex und beim Playstation-Spielen und schweben im superreichen Nirwana, bis
seine Eltern in Russland Front gegen die Verbindung machen.
Das führt schnell zu einer Reihe kurioser Twists, die den extrem dynamischen Film Richtung Komödie treiben, da sich die frischgebackene Ehefrau mit drei Exil-Russen im Schlepptau auf die Suche nach ihrem ausgebüxten Gatten macht, der vor dem Zorn seiner Eltern davonläuft. Bei der nächtlichen Odyssee durch New York mischen sich grandiose Momente und eine fiebrige Exzessivität dann immer mehr mit Momenten, in denen die Autonomie wie auch die Würde der Protagonistin zunehmend klarer herausgearbeitet werden, bis sie in der allerletzten Szene in einem berührenden Moment der Wahrheit kumulieren. Die „Goldene Palme“ adressierte Jury-Präsidentin Greta Gerwig deshalb zu Recht an einen „unglaublich menschlichen Film“, der hinter dem Geschäft mit dem Sex und den visuell entfesselten CinemaScope-Bildern etwas zutiefst Authentisches aufscheinen lässt: die Suche nach Zugehörigkeit jenseits aller Verwertungslogiken.
Die Perspektive der Frauen
Auf ihre höchst unterschiedliche Weise passten diesen beiden Filme zugleich ins Generalthema des diesjährigen Cannes-Festivals, das fast durchgängig die Perspektive von Frauen ins Zentrum rückte. Seitdem der sogenannte Bechdel-Test der US-amerikanischen Comic-Künstlerin Alison Bechdel auch in Mainstream-Medien populär geworden ist, der weibliche Stereotypisierungen aufspießt, indem er den Anteil und den Inhalt weiblicher Dialoge in Filmen auswertet, lässt sich die Schieflage zwischen den Geschlechtern auf der Leinwand nicht mehr verschleiern.
Das hat auch in
Cannes zu einem Umdenken geführt, zumal in Frankreich die Forderung nach einer
50/50-Quotierung in der Filmindustrie besonders virulent ist. Wenngleich auch
2024 der Anteil der Filmemacherinnen in der „Sélection officielle“ gegenüber
den Vorjahren sogar noch weiter zurückgegangen ist, ließ sich die inhaltlich
dominante Ausrichtung an weiblichen Hauptfiguren – vom Chrom-und-PS-Spektakel „Furiosa:A Mad Max Saga“ bis zum schwarz-weißen Weltkriegsdrama „The Girl with the Needle“ – nicht übersehen.
Das führte bis in die Nebenreihen hinein zu deutlichen Akzentverschiebungen innerhalb der Filme. So wirft der britische Film „Santosh“ der Regisseurin Sandhya Suri einen ernüchternden Blick auf die Verhältnisse im Norden Indiens, in dem er die Geschichte einer Ermittlung aus Sicht zweier Polizistinnen erzählt. Die Hauptfigur ist eine junge Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes dessen Job als Polizist geerbt hat und sich als umsichtige und vor allem unbestechliche Frau erweist. Bei ihren Recherchen zum Tod eines 14-jährigen Mädchens wird sie von einer älteren Beamtin unterstützt, die sich innerhalb der rüden Männergesellschaft einen Platz erkämpft hat. Der Preis für diese Rolle aber ist hoch und offenbart nicht nur die enormen sozialen Ungleichheiten, sondern auch eine Selbstherrlichkeit, die auch durch eine „feministische“ Ummantelung nicht weniger abgründig wird.
Wie wohltuend unprätentiös ein solcher Perspektivenwechsel die Dinge in Bewegung versetzen kann, zeigt das illustre Spiel von Chiara Mastroianni, die in „Marcello Mio“ in die Rolle ihres Vaters Marcello Mastroianni schlüpft und im Spiegel dieser Rolle mit den Identitäten jongliert. Mit von der Partie sind ihre Mutter Catherine Deneuve und ihre ehemaligen Partner Melvil Poupaud und Benjamin Biolay, aber auch Fabrice Luchini, der als einziger die Chance ergreift, etwas nachzuholen, was er im wahren Leben versäumt hat: nämlich eine Freundschaft mit dem italienischen Starschauspieler.
Alle anderen reagieren konfus bis aggressiv auf die Verwandlung, mit der Chiara Mastroianni anfangs nur ihre eigene Unsicherheit überspielen will, an ihren berühmten Eltern gemessen zu werden. Es reichen ein schwarzer Anzug, Schnauzer, Hornbrille und Hut, um aus der eigenen Haut und dem angeborenen Geschlecht zu schlüpfen – und die Welt in Aufregung zu stürzen, da kaum jemand mit den Fluiden umzugehen versteht. Regisseur Christophe Honoré nutzt das zu einer beschwingten Charade der Möglichkeiten, an deren Ende Chiara Mastroianni beherzt ins Offene schwimmt, während alle anderen nicht mithalten können. Als Vision für die Programm-Auswahl künftiger Cannes-Festivals wäre das mehr als ein Bild, das in einem der kommenden Jahre das Festival als Poster schmücken könnte.
Kein Einheitsbrei
Gegen so viel Vitalität, Feinsinn und politischen Weitblick kamen die Werke alter Meister nicht an, die im Gesamtbild des Wettbewerbs dennoch ihren Platz behaupteten. Nichts wäre für ein Festival schlimmer als ein von wem oder wie auch immer verordneter Einheitsbrei. Werke wie „Megalopolis“ von Francis Ford Coppola, „Oh, Canada“ von Paul Schrader oder „The Shrouds“ von David Cronenberg spielten bei der Preisvergabe zwar keine Rolle und nehmen auch im jeweiligen Gesamtwerk der drei Filmemacher keinen Spitzenplatz ein, doch sie führen eine Kontinuität des Schaffens vor Augen, die bei allen Einschränkungen von der ungebrochenen Energie und dem Gestaltungswillen ihrer Macher Zeugnis geben.
Dazu kann man getrost auch die „Goldenen Ehrenpalmen“ für Meryl Streep, George Lucas und das Studio Ghibli zählen, bei deren Verleihung das Cannes-Festival aufwändige Trailer produziert, in denen das Werk der Geehrten im Schnelldurchlauf erinnert wird. Das ist mehr als eine Pflichtübung, da man auch in Kenntnis vieler Filme immer wieder über einzelne Momente staunt und über nostalgische Anwandlungen hinaus die ungeheure Kreativität anerkennen muss, die hinter diesen Werken steckt. Wie gut, wenn sich der Blick zurück mit einer Aussicht verbindet, in der neue Wege und Perspektiven möglich sind.