Der argentinische Regisseur Lisandro Alonso hat sich schon früh in der Welle innovativer Filmemacher seines Landes hervorgetan. Seine Arbeiten spielen in Räumen mit fließenden Grenzen und lösen auch feste Zeitstrukturen auf. Nach dem abstrakten Minimalismus seiner ersten Filme weisen seine Werke mittlerweile konkretere Erzählungen auf. Sein jüngster Film „Eureka“ (jetzt im Kino) handelt von Ausbeutung, Kolonialismus und der Plünderung von Ressourcen. Das Porträt eines Künstlers, der sich allen einengenden Verbindlichkeiten widersetzt.
Man
kann sich den filmischen Kosmos von Lisandro Alonso als einen
gleichermaßen offenen wie begrenzten Raum vorstellen. Filme wie „La Libertad“ (2001), „Los muertos“ (2004), „Jauja“ (2014) und „Eureka“
(2023) erzählen davon, wie Menschen diesen Raum durchqueren, der fast immer ein
weiter, landschaftlicher und grundsätzlich einsamer, menschenleerer Raum ist – die
Pampa, eine Frontierstadt, ein Reservat, der Dschungel, ein weitläufiges Gebäude.
Meistens sind sie auf der Suche: nach einer entschwundenen Tochter, einem
Kinosaal, dem Goldgräberglück. Sie tun darin auch andere Dinge, arbeiten vor
allem, aber auch Nahrung beschaffen, kochen, essen, schlafen oder einfach nur sein.
Essenziell ist jedoch das Unterwegssein, die Bewegung von Körpern im Raum und
in der Zeit. Doch so ungewiss auch ist, wo dieser Raum, der gelegentlich auch in
andere geografische wie zeitliche Räume übergehen kann, seinen Anfang und sein Ende
hat: stets ist er als ein dezidiert filmischer Raum markiert.
Alonsos Filme verweisen beständig auf Raum-Zeit-Verhältnisse – und auf den Rahmen, die Begrenzung des Filmbildes: durch die häufig dioramenhafte Anmutung (abgerundete Ecken, die auf die Frühzeit von Fotografie und Kino anspielen), das Format (4:3) und insbesondere die Kadrage. Figuren betreten das Bild, sie treten ab oder entschwinden aus dem Rahmen durch eine Bewegung, während die Kamera unbeeindruckt in der Einstellung verweilt. So gesehen handeln die Filme nicht nur von bestimmten Menschen an bestimmten Orten, sondern immer auch von den Möglichkeiten und Implikationen der Darstellung, oder wie es der Filmkritiker Alejandro Bachmann formuliert hat: „Seine (Alonsos) Filme zu sehen, bringt immer auch ein Nachdenken darüber in Gang, was es heißt, die Welt in Sichtbares und Unsichtbares zu unterteilen.“
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Ein Teil des „Nuevo Cine Argentino“
Lisandro Alonso, 1975 in Buenos Aires geboren, wurde in seinen Anfangsjahren mit einem künstlerischen Zusammenhang assoziiert, der Mitte der 1990er-Jahre unter dem Namen „Nuevo Cine Argentino“ bekannt wurde. Was Filmemacher:innen wie Lucrecia Martel, Mariano Llinás, Rodrigo Moreno und eben Alonso miteinander verbindet, ist ein auf Geschichte, soziale Kontexte und geografische Räume geschärfter Blick, der sich vom magischen Realismus der Vorgängergeneration abwendet. Wie die meisten Erneuerungsströmungen lässt sich auch das „Nuevo Cine Argentino“ nicht als Bewegung im eigentlichen Sinn charakterisieren – heute, wo sich die ästhetischen Sprachen noch weiter ausdifferenziert haben, sicher noch weniger als damals.
Auch Alonsos Werk, das sechs Spielfilme und drei Kurzfilme umfasst – darunter auch die filmische Korrespondenz „Sin título (Carta para Serra)“ – hat sich über die Jahre kontinuierlich weiterentwickelt und transformiert. Die ersten beiden Filme erzählen überschaubare, im Grunde einfache Geschichten, in deren Fokus steht jeweils eine Figur steht. „La Libertad“ (2001) folgt einem jungen Holzfäller (gespielt von dem Laiendarsteller Misael Saavedra) bei seinen Alltagsbeschäftigungen durch einen Tag bis in die Nacht. Die Form der „teilnehmenden“ Beobachtung ist nah am Dokumentarischen angelegt. Die Fiktion besteht weniger im Dazuerfinden als in der Verdichtung, dem Rhythmus und der gleitenden Abfolge der Einstellungen. Während der Arbeiter einmal Mittagsschlaf hält, löst sich die Kamera von ihrem Blickobjekt und schweift wie körperlos in der Landschaft umher – ein kurzer Ausflug, der die größeren „Reisen“ in „Eureka“ vorwegnimmt.
Stoische Einsiedler in intakter Natur
Auch in den nachfolgenden Filmen stehen stoische Einsiedler im Zentrum, die in Gegenden unterwegs sind, in der die Natur zwar nicht gänzlich unberührt ist, aber doch noch intakt. Vargas (Argentino Vargas), der gerade aus dem Gefängnis entlassene Protagonist in „Los muertos“ (2004), ernährt sich auf seiner Reise durch die subtropische Provinz Corrientes von dem, was die Umgebung hergibt. Man sieht ihm dabei zu, wie er einen Bienenstock ausräuchert und an seinen Waben saugt oder wie er eine Ziege fängt und schlachtet. Statt seiner inzwischen erwachsenen Tochter, die das eigentliche Ziel seiner Reise ist, begegnet er in den abgelegenen Sümpfen am Rande des Urwalds ihren sich selbst überlassenen Kindern. Ob er bleiben wird, ist ungewiss. Nachdem er in einer improvisierten Behausung hinter einer Art Vorhang verschwunden ist, verweilt die Kamera noch lange auf dem im Wind wehenden Stoff. Ein Eingang, so könnte man rückblickend lesen, in den nächsten Film „Fantasma“ (2006). Zumindest begegnet einem der Hauptdarsteller Argentino Vargas hier wieder, um an einer Vorführung des vorherigen Films („Los muertos“) teilzunehmen.
„Fantasma“ markiert den Auftakt zu komplexeren Figuren und Erzählbewegungen und ist der einzige von Alonsos Arbeiten mit einem urbanen Schauplatz. Tatsächlich aber erscheint der Ort, das Teatro San Martín in Buenos Aires, ein Kulturzentrum, das neben einem Theater auch die Kinemathek beherbergt, ähnlich undurchdringlich wie die Pampa. Auf der Suche nach dem Kinosaal verirrt sich Vargas und läuft Misael Saavedra, dem Protagonisten aus „La Libertad“, über den Weg, der sich in dem Gebäude ebenso wenig zurechtfindet. Die Verbindungen zwischen Dachterrasse, Treppenhaus, Toiletten, Fahrstühlen und Heizungskeller wirken undurchdringlich und labyrinthisch – eine entfernte Verwandtschaft mit der verwinkelten Architektur des Containerschiffs in „Liverpool“ (2008).
Alonsos durchdachte, aber gänzlich unprätentiöse Anordnungen von Körpern in Räumen, seine ästhetischen Setzungen – das Zusammenspiel von Farben und Lichtstimmungen – und die Vorliebe für charismatische Gesichter wirken wie Wahrnehmungsverstärker. Wie lange dauert ein Moment? Ist ein Raum gekachelt oder holzverkleidet, kalt oder warm, wie verändert sich die Landschaft? Die Aufmerksamkeit für den Ton wird geschärft, man lauscht dem Wind, den raschelnden Blättern, achtet auf Oberflächen und Texturen, auf Körperhaltungen und den Gang eines Menschen, ohne von der Kamera dirigiert zu werden. Es ist eine kontemplative Form des Sehens und Hörens, die gleichermaßen immersiv wie distanzierend wirkt.
Reisen und Erinnerungspolitik
Von den „Hitzefilmen“ geht es in „Liverpool“ (2008) in die eisige Kälte. Wieder erzählt Alonso von einer Rückkehr. Nachdem der Matrose Farrel (Juan Fernández) von Bord gegangen ist, macht er sich auf den Weg in sein abgelegenes Heimatdorf, das er vor vielen Jahren verlassen hat. Seine Reise durch die schneebedeckten Weiten Feuerlands führt ihn in entlegene Hütten und zu einsamen Mahlzeiten. Zu Hause hat man ihn weder erwartet noch vermisst, seine Ankunft ist nicht mehr als ein kurzes Verweilen; schon folgt ein neuer Aufbruch.
„Jauja“ (2014) stellt im Schaffen von Alonso eine Zäsur dar. Auch wenn erneut ein Einzelgänger im Zentrum steht, verschiebt sich der Fokus von der Figur auf den historischen Raum – und, damit verbunden, auf eine sehr freie Deutung von Erinnerungspolitik. Hintergrund des Films ist die sogenannte „Wüstenkampagne“, ein militärischer Feldzug, mit dem die argentinische Regierung unter Beteiligung französischer, englischer und dänischer Expeditionen zwischen 1878 und 1885 gegen die indigenen Völker vorging. Mit der filmischen Bearbeitung der kolonialen Vergangenheit seines Heimatlandes Argentinien rückt Alonso nicht nur von der Gegenwartserzählung ab, die bis dahin sein Werk bestimmt hat. Auch die für die Arbeiten signifikante Spracharmut wird, zumindest in Teilen, von einem ausgearbeiteten Text abgelöst; das Drehbuch entstand in Zusammenarbeit mit dem argentinischen Schriftsteller Fabián Casas. Neu sind auch die expliziten Bezüge zur Kino- und Mythengeschichte (von Inka-Folklore bis zu John Fords Kavallerie-Western) sowie die Arbeit mit einem professionellen Schauspieler. Viggo Mortensen spielt einen aufgeklärt auftretenden dänischen Ingenieur, der sich an einer Expedition in Patagonien beteiligt. Als seine 15-jährige Tochter eines Nachts mit einem Soldaten verschwindet, bricht er allein in die wilde Natur auf, um sie zu suchen – und geht in der „Wüste“ buchstäblich irre.
Eine historische Rekonstruktion hat Alonso dabei nicht im Sinn. Stattdessen errichtet er einen durch seine Artifizialität markierten filmischen Raum, in dem Geschichte landschaftlich, körperlich und hypnotisch verarbeitet wird. Wie schon „Los muertos“ und „Fantasma“ führt die Bewegung der Figur zu keiner Verfestigung und zu keinem Ziel. Identität, Bewegung, Richtung und Raum zerstreuen sich, bis der Film sich unvermittelt in einer leicht märchenhaften Gegenwart in Dänemark wiederfindet.
Seine vielschichtigste Arbeit: „Eureka“
„Eureka“ (2023), eine erneute Zusammenarbeit mit Fabián Casas und dem Drehbuchautor Martín Caamaño und sicherlich Alonsos vielschichtigste Arbeit, setzt die Beschäftigung mit Ausbeutung, Kolonialismus und der Plünderung von Ressourcen noch auf ganz andere Weise fort. Der Film ist ein Triptychon aus lose miteinander verwobenen Geschichten über Existenzweisen und Repräsentationsformen indigenen Lebens. Ausgestaltet sind die drei Teile in einer jeweils anderen (dabei generisch unreinen) Filmsprache. Auf einen stilisierten Schwarz-weiß-Western, in welchem unter anderem Chiara Mastroianni und Viggo Mortensen (als Revolverheld auf der Suche nach seiner Tochter) zu sehen sind, folgt ein hypnotisches Sozialdrama mit Polizeifilm-Elementen im Pine-Ridge-Reservat der Gegenwart, das fließend – oder vielmehr fliegend – in eine im brasilianischen Urwald der 1970er-Jahre spielende mythische Erzählung übergeht. Anders als im Western, in dem die Ureinwohner auf die Rollen von Nebenfiguren verwiesen sind, anders auch als im von der westlichen „Zivilisation“ verwüsteten Reservat, scheinen tief in den Amazonaswäldern die jahrhundertealten kulturellen Praktiken noch intakt. Eine Gemeinschaft teilt nächtliche Träume. In denen ist alles möglich; Grenzen lösen sich auf. Dann aber wird ein Mann zum Mörder – und Goldgräber.
Der mittlere Teil brennt
sich ein. In ihm zeigen sich die Zerstörungen durch gewaltsame Landnahme,
Rassismus und Identitätsverlust in stiller Verzweiflung. Die Erzählung folgt
der Polizistin Alaina (Alaina Clifford) durch einen Tag im Reservat der Lakota-Oglala, dem ärmsten
Landstrich der USA. Im Schneegestöber kämpft sie sich in ihrem Land Rover von
einer Alltagskatastrophe zur nächsten: verwahrloste Crack-Häuser, ein sturzbetrunkener
Autofahrer, eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen einer schwangeren
Teenagerin und ihrer Mutter, eine Schießerei im Casino.
Dazwischen, verirrt, eine mit ihrem Wagen liegen gebliebene Schauspielerin (Chiara Mastroianni), die für die Recherche für einen Western im Reservat unterwegs ist, den man zuvor schon über einen Fernsehbildschirm flimmern sah (es ist der erste Teil von „Eureka“). Auch hier fokussiert sich die Beschreibung realer Lebensverhältnisse – vom Staat missachtete Menschen, die ohne Annehmlichkeiten wie Heizung oder Strom zu leben gezwungen sind – auf die materielle Präsenz: das flackernde Blaulicht auf Streife, die bunte Automatenwelt im Casino, die Schneeflocken im Scheinwerferlicht, der Rhythmus des Funkverkehrs, die unter ihren Kleidungsstücken halb begrabenen Menschen, das fragende Gesicht einer jungen Frau.
Während Alaina dem Film allmählich abhandenkommt, tritt ihre Nichte ins Zentrum. Sadie (Sadie Lapointe) ist die verkörperte Hoffnung, tapfer und klar, aber auch sie gelangt bald ans Ende ihrer Kräfte. Ein magischer Trank ihres Großvaters verspricht, sie in eine an Raum und Zeit ungebundene Sphäre zu führen. Namen und Motive zirkulieren, Gestalten wandeln. Am Ende verweisen die tröstenden Worte des Ältesten auch auf ein basales Prinzip in Alonsos Werk: „Denke immer an den Raum, nicht an die Zeit. Die Zeit ist eine Fiktion, von Menschen erfunden.“